Brüssel entgleiten Macht und Einfluss

Im Kampf gegen Betrug mit EU-Fördermitteln will die Kommission etwas erlangen, was ihr in vielen Bereichen abhandengekommen ist: ein Durchgriffsrecht.

Es braucht bloß die beiden Wörter EU und Betrug, um aufhorchen zu lassen. Denn damit werden gleich zwei Vorurteile bedient: das eine über die teure, überbordende EU-Verwaltung, das andere über einen undurchsichtigen Förderdschungel, in dem sich eine kleine Gruppe eingerichtet hat wie die Maden im Speck. Beides ist bei näherer Betrachtung nicht gänzlich haltbar, wenngleich beides seine wahren Seiten hat. Vorurteile sind eben nur eine Simplifizierung komplexer Realitäten.

Aufhorchen hat lassen, dass die EU-Kommission eine eigene Staatsanwaltschaft schaffen möchte, die künftig den Betrug mit Gemeinschaftsgeldern verfolgen soll. Aber bei näherer Betrachtung geht es nicht darum, dass die Probleme mit EU-Förderungen eskalieren. Der Betrug bei Agrarsubventionen konnte im letzten Jahrzehnt sogar deutlich eingedämmt werden. Pro Jahr beträgt das EU-Budget rund 150 Milliarden Euro, bei 500 Millionen gibt es Hinweise auf Betrug. Das sind gerade einmal 0,3 Prozent. So eine Dunkelziffer würden sich viele nationale oder lokale Verwaltungen wünschen. Die EU-Kommission will mit diesem Vorstoß eigentlich auch etwas gänzlich anderes erreichen.

Das Beispiel EU-Förderungen ist nämlich symptomatisch für das wachsende Machtproblem der Gemeinschaftsverwaltung. Die EU-Kommission wurde nicht nur in der aktuellen Krise von den Staats- und Regierungschefs umgangen. Ihr wurden im Lauf der Jahre immer mehr Aufträge übertragen, nicht aber die Möglichkeit, diese auch selbstständig abzuwickeln. Eigentlich läuft diese Konstruktion der EU auf einen Selbstbetrug der Mitgliedstaaten hinaus. Die nationalen Regierungen haben das politische Programm der Union gemeinsam immer mehr ausgeweitet. So ist der Schein entstanden, dass Brüssel für alles sorgen kann – für die Zukunft der Landwirtschaft, für die Umverteilung zwischen Arm und Reich, für mehr Beschäftigung und mehr Sicherheit. Doch der Gemeinschaftsverwaltung wurde weder das Geld noch die Macht übertragen, um das alles umzusetzen. Stark ist sie lediglich in der Wettbewerbskontrolle und in der Landwirtschaftspolitik geblieben. Alles andere läuft auf eine zwischenstaatliche Kooperation hinaus, in der die nationalen Regierungen die Steuerung und Kontrolle nicht aus der Hand gegeben haben.

Im Fall der Förderungen bedeutet diese beschränkte Macht, dass Brüssel zwar das Geld in die Mitgliedstaaten überweisen darf, nationale und regionale Verwaltungen aber die Verteilung und Kontrolle übernehmen. Geht einmal etwas schief – und das tut es naturgemäß –, ist dennoch Brüssel der Buhmann. Nationale und regionale Politiker, die eigentlich die politische Verantwortung tragen müssten, putzen sich gern an dieser intransparenten Konstruktion ab. Und genau das will die Kommission nun ändern. Die neue Staatsanwaltschaft soll die nationale Verantwortung erzwingen können.

Freilich zeigen die Aktivitäten rund um die Gründung einer EU-Staatsanwaltschaft auch, dass bisherige Instrumente der Kontrolle von EU-Förderungen – vor allem jene der europäischen Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF – versagt haben. Die EU-Behörde hat sich zuletzt mit Ermittlungen gegen den ehemaligen maltesischen Kommissar John Dalli völlig blamiert.


Aber auch die Kommissionsführung trägt bei diesen Fehlentwicklungen eine Mitschuld. Sie hat im Schauspiel um scheinbare Macht und scheinbare Kompetenz willfährig ihre Rolle übernommen. Sie hat sich mit immer neuen Regelungsvorschlägen wichtiger gemacht, als sie ist. In Wirklichkeit blieb die EU-Verwaltung der dümmliche Grüßaugust. Am deutlichsten wurde das bei der gescheiterten Kontrolle der Währungsunion, bei der es für Brüssel nie ein Durchgriffsrecht gab.

Statt selbst Vorschläge für eine Rückübertragung von Kompetenzen in Richtung Mitgliedstaaten zu machen, statt sich auf jene Bereiche zu konzentrieren, für die sie ausreichend ausgestattet ist, hat die Kommission an diesem Potemkinschen Dorf mitgebaut. Das Trugbild, das entstand, zeigt eine EU, die Erwartungen erfüllen soll wie ein Superstaat, sich aber nie dazu entwickelt. In der Realität geht das nicht zusammen.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2013)

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