Kommentar

Kuss bei WM: Das Patriarchat schläft auch in glorreichsten Momenten nicht

Verbandspräsident Rubiales drückte der Stürmerin Hermoso ungefragt einen Kuss auf den Mund.
Verbandspräsident Rubiales drückte der Stürmerin Hermoso ungefragt einen Kuss auf den Mund.IMAGO / Sports Press Photo
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Man kann von einer euphorischen Geste sprechen, hinter Rubiales Kuss verbirgt sich dennoch ein sexueller Übergriff.

Es war eine Fußball-Weltmeisterschaft der ersten Male und Rekorde. 1.978.274 Tickets wurden für die Spiele in Australien und Neuseeland verkauft. Knapp doppelt so viele wie für die letzte WM in Frankreich, im Jahr 2019. Mehr als verdoppelt hat sich das Preisgeld für den Weltmeisterinnentitel: 10,5 Millionen Dollar haben die Spanierinnen mit dem Weltmeisterinnentitel heuer erlangt, vor vier Jahren gab es ein Preisgeld von vier Millionen Dollar. (Eine immer noch ernüchternde Summe, denkt man an die 42 Millionen, die der Sieger der Männer-Weltmeisterschaft 2022 bekommen hatte.) Acht Teams feierten auf der anderen Seite der Weltkugel ihr WM-Debüt und Spanien holte sich nach einem 1:0 gegen England erstmals den Sieg. Bei diesem World Cup wurde Geschichte geschrieben, die Emanzipation im Fußball hat ordentlich an Tempo zugelegt. Aber das Patriarchat schläft auch in den glorreichsten Momenten nicht.

Ein paar Minuten durfte sich die spanische Stürmerin Jennifer Hermoso erst Weltmeisterin nennen, als sie daran erinnert wurde, dass sie immer noch eine Frau inmitten einer von Männern dominierte Gesellschaft ist - von der Sportart ganz zu schweigen. Eine erfolgreiche zwar, ja, eine der besten Fußballspielerinnen der Welt, aber eben eine Frau. Eine Frau, die man - geht es nach Spaniens Verbandspräsident Luis Rubiales und einigen Männern im Netz - nach Belieben küssen darf, der eigenen Euphorie wegen. Das mag vielleicht einst in romantischen Komödien ganz nett ausgehen haben, in Wahrheit ist das aber ein Übergriff. Ein Eindringen in den eigenen, ganz privaten Bereich. Eine Aggression.

Eine Aggression, zu der Stürmerin Hermoso anschließend auch deutliche Worte fand: „Es hat mir nicht gefallen“, aber was hätte sie tun sollen. Ihren Kopf hatte Rubiales immerhin fest in beiden Händen, zudem ist er ihr Vorgesetzter. Vielleicht war es tatsächlich die Freude, die ihn da - vor laufender Kamera und einem Millionenpublikum - geritten hat. Jedenfalls dürfte er sich seiner Macht als Präsident des spanischen Fußballverbandes und Vizepräsident der UEFA sehr sicher sein. Es operiert schließlich auch Spaniens Team-Trainer Jorge Vilda relativ ungestört, obwohl ihn schon 15 Topspielerinnen angeprangert, ja sogar verklagt hatten. Er wurde der Misshandlung bezichtigt, zwölf Spielerinnen haben sich damit auch aus der Mannschaft zurückgezogen.

Was hinter verschlossenen Türen von Umkleidekabinen und Trainingshallen passiert, wenn einem solch hohen Verantwortlichen ein ungefragter Kuss „spontan“ über die Lippen kommt, muss - Euphorie hin oder her - zumindest hinterfragt werden. Zumal darauffolgende Scherze des Fußball-Chefs (der Sieg würde auf Ibiza gefeiert, wo er Hermoso auch heiraten werde - eine offensichtliche Anspielung auf den Kuss) von keinem besonders hohen Reflexionsvermögen zeugen. Ein offizielles Statement kam erst mit einiger Verzögerung, darin hieß es dann, er habe „wahrscheinlich einen Fehler gemacht“. Für ihn sei es aber etwas „Normales und Natürliches“. Es ist natürlich schade, dass einen Tag nach dem WM-Finale wieder einmal ein Männername durch die Titel diverser Medien geistern muss. Den mühsam zurückgelegten Weg der Spielerinnen hin zu mehr Gleichstellung im Fußball soll dieser nicht schmälern. Er erinnert dennoch daran, dass auch noch ein langer Weg vor uns liegt.

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