Eine Näherin einer Fabrik in Bangladesch hängt Stoffe zum Trocknen auf. Die Textilindustrie zählt zu den Risikosektoren, auf die neue Lieferkettengesetze besonders abzielen.
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Europas verwaschene Lieferketten: Warum neue Gesetze nicht alles besser machen

In asiatischen Textilfabriken sind Arbeitsrechte noch immer wenig wert. Immer mehr große Modeketten verlagern nun ihre Produktionen. Neue Gesetze sollen mehr Transparenz in die Lieferketten bringen. Was das wirklich bringt und warum „made in Europe“ aus Portugal boomt.

Shahidul Islam war bis vor wenigen Wochen Präsident der Textilgewerkschaft in Bangladesch. Am 25. Juni wurde er auf offener Straße ermordet, als er eine Textilfabrik verließ. Kurz zuvor hatte er sich für die Auszahlung der Löhne für die Arbeiterinnen und Arbeiter eingesetzt. Der Vorfall markiert damit einen traurigen Meilenstein in der Geschichte der Textilindustrie. Menschenrechtsverletzungen stehen vor allem im südostasiatischen Raum an der Tagesordnung, die westlichen Unternehmen immer mehr zu schaffen macht. So verkündete zuletzt die schwedische Modekette H&M, dass sich das Unternehmen wegen zunehmender Verletzungen von Arbeitnehmerrechten aus Myanmar zurückziehen werde. Damit folgt H&M dem Beispiel anderer westlicher Modekonzerne. Auch die spanische Zara-Mutter Inditex, Primark und Marks & Spencer hatten zuletzt angekündigt, ihre Beziehungen zu Zulieferern aus Myanmar zu kappen.

Die britische Menschenrechtsorganisation Business and Human Rights Centre hatte in einem kurz zuvor veröffentlichten Bericht für den Zeitraum von Februar 2022 bis Februar 2023 mehr als 150 Fälle mutmaßlicher Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen in Textilfabriken dokumentiert. Im Vorjahreszeitraum lag die Zahl bei 56. Berichte wie diese würden zeigen, dass in der Branche immer noch einiges im Argen liegt, sagt Lieferkettenexpertin Gertrude Klaffenböck von der NGO Südwind: „Nach außen hin schmücken sich viele Unternehmen damit, menschenrechtliche Standards zu implementieren, gleichzeitig sind sie der Öffentlichkeit aber viel zu lang überprüfbare Informationen schuldig geblieben.“

Blick in die Lieferkette.

Seit Anfang des Jahres sind die Verschleierungsmöglichkeiten aber deutlich kleiner geworden. Mit Einführung des deutschen Lieferketten-Sorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) müssen Firmen erstmals die unternehmerische Verantwortung für die Einhaltung von Menschenrechten in der Lieferkette übernehmen. Deutschland will damit seine arbeitsrechtlichen Mindeststandards in andere Länder exportieren. Liegen einem Unternehmen Anhaltspunkte zu Verstößen bei unmittelbaren Zulieferern vor, so muss es anlassbezogen sofort reagieren. Kommt es seinen gesetzlichen Pflichten nicht nach, können Bußgelder bis zu acht Millionen Euro oder zwei Prozent des weltweiten Jahresumsatzes verhängt werden. Derweil gelten die Vorschriften nur für Firmen mit Sitz in Deutschland mit mehr als 3000 Mitarbeitern. Ab 1. Jänner 2024 müssen sich auch kleinere Unternehmen mit Zulieferern aus dem Ausland an das neue Gesetz halten.

Wie sieht das in der Praxis aus?

Der deutsche Sportartikelhersteller Puma etwa setzt auf insgesamt 141 Lieferanten in 27 Ländern. Dabei ist Asien mit 95 Prozent des Gesamtvolumens die stärkste Beschaffungsregion. China ist derzeit das bedeutendste Produktionsland für Puma, dahinter folgen Vietnam, Kambodscha und Bangladesch. Die Hersteller in China haben dieses Jahr bereits Schulungen zum deutschen Lieferkettengesetz absolviert – durchgeführt von einer chinesischen Partnerorganisation, sagt ein Sprecher des Unternehmens zur „Presse am Sonntag“. Bevor eine Geschäftsbeziehung überhaupt zustande komme, werde bei jedem Hersteller geprüft, ob die Bedingungen den Sozial- und Umweltstandards entsprechen und eingehalten werden. Nur Hersteller, die solche Fabrikaudits bestehen, würden in die Lieferkette aufgenommen. Danach werde jährlich überprüft, ob der Lieferant die Standards einhält. Mangelnde Transparenz eines Lieferanten werde bereits als Nulltoleranzthema eingestuft.

Ähnlich äußert sich auch der zweite große deutsche Sportartikelhersteller, Adidas, gegenüber der „Presse am Sonntag“: Das Unternehmen bewache die Beschäftigten seiner Lieferkette durch externe und unabhängige Organisationen. Durch die Einführung des Lieferkettengesetzes habe sich für Adidas nur wenig verändert, die bestehenden und weltweit geltenden Unternehmensstandards würden die Anforderungen des Gesetzes bereits im Wesentlichen abdecken.

In Zahlen

16 Beschwerden und Hinweise sind auf Basis des deutschen Lieferkettengesetzes bei der zuständigen Behörde eingegangen. Noch wurde kein Schuldspruch ausgesprochen

150 Fälle mutmaßlicher Arbeits- und Menschenrechtsverletzungen registrierte die NGO Business and Human Rights Centre vergangenes Jahr in Textilfabriken.

Zwar zähle Adidas in Sachen Offenlegung seiner Lieferketten zu den fortschrittlicheren Unternehmen, sagt Klaffenböck. In Kambodscha hätte das Unternehmen aber Lohnschulden in Millionenhöhe. Teils würden die Zulieferer Arbeiterinnen unter dem existenzsichernden Mindestlohn produzieren lassen, da die Einkaufspreise der Modeketten die Produktionskosten kaum übersteigen, so die Südwind-Expertin. Adidas dementiert die Vorwürfe.

Derlei Anschuldigungen führten in mehreren Fällen schon zu Beschwerden auf Grundlage des neuen LkSG. Seit Jahresbeginn seien „insgesamt 16 Beschwerden und Hinweise eingegangen, die sich auf unterschiedliche Branchen und Geschäftsfelder beziehen“, heißt es vom zuständigen Bundesamt für Wirtschaft- und Ausfuhrkontrolle gegenüber der „Presse am Sonntag“. Zwar seien bisher noch keine Sanktionierungen wegen Verstößen gegen das Lieferkettengesetz ausgesprochen worden, erstmals können nun aber konkrete arbeitsrechtliche Verfehlungen in der Lieferkette direkt ausjudiziert werden. Mit Spannung erwarten nun Behörden, Unternehmen und NGOs, wie die ersten Fälle beschieden werden. „Allein durch die gesetzliche Verankerung merkt man schon, dass mehr und mehr Unternehmen die Arbeits- und Menschenrechte innerhalb ihrer Lieferketten ernster nehmen“, so Klaffenböck. Das Gesetz zeige also schon nach wenigen Monaten seine Wirkung.

„Am Ziel vorbei“.

Völlig anders sieht das Ökonom Holger Görg vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW): „Die Grundidee, dass Unternehmen für alle Glieder in ihrer Kette Verantwortung übernehmen, ist richtig. Leider wurde es katastrophal umgesetzt.“ Die betroffenen Unternehmen müssten 400 Fragen schwere Formulare ausfüllen, in denen es nur darum gehe, sich rechtlich abzusichern. „Damit wurde ein Bürokratiemonster geschaffen, das am Ziel vorbeigeht.“ Als Konsequenz sehe man bereits Tendenzen, dass deutsche Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten aus kritischen Ländern abbrechen. Die Volkswirtschaften der ohnehin fragilen Produktionsländer in Südostasien könnte eine Abwanderung der Textilindustrie zusätzlich destabilisieren. „Das ist nicht der Zweck dieses Gesetzes“, so Görg. „Eigentlich hätte man dort ja für bessere Arbeitsbedingungen sorgen wollen.“ Stattdessen könnte die Textilindustrie ihre Produktion wieder vermehrt Richtung Europa verlagern.

Immer mehr Modelabels übersiedeln ihre Produktionsstätten nach Portugal. Mit dem Label „made in Europe“ wurden die Iberer rasch zum Aushängeschild für fair produzierte Mode, mit der sich Modemarken gern schmücken. Zwischenzeitlich gibt es in Portugal mehr als 12.000 Unternehmen und mehr als 130.000 Beschäftigte in der Textil- und Modebranche – mit einem Jahresumsatz von zuletzt 7,3 Milliarden Euro hat sich der Sektor zu einem wichtigen Wirtschaftszweig entwickelt. Portugal hat für den Aufbau von Produktionsstätten Mittel der Europäischen Kommission zuletzt effizient genutzt. 16,6 Milliarden Euro wurden aus dem Fördertopf der Next Generation EU bis 2026 veranschlagt.

Einerseits profitieren davon Unternehmen, die sich in Portugal ansiedeln. Andererseits sind die Arbeitskräfte verhältnismäßig günstig: Der gesetzliche Stundenlohn im sozialistisch regierten Portugal liegt bei 4,50 Euro – deutlich unter allen anderen west- und mitteleuropäischen Ländern. Portugal ist damit nicht zum ersten Mal Europas Textilzentrum. Das Land blickt auf eine lange Tradition als Mode- und Lederverarbeiter zurück. Bevor die Unternehmen nach Asien abwanderten und dort günstiger produzierten, stand Portugal hoch in der Gunst und wurde wegen niedriger Preise und Massenproduktion auch als das „China Europas“ bezeichnet.

Die Wiener Unternehmerin Nadine Schratzberger arbeitet für ihr Sportlabel „Montreet“ auch mit einer Produktionsstätte in Portugal zusammen. Nicht ausschließlich, es gibt auch eine Produktion in der Ukraine. Nur auf ein Land zu setzen, sei zu risikoreich, wie man derzeit sieht, sagt die Unternehmerin zur „Presse am Sonntag“. Die Kleidung wird zwar in Portugal gefertigt, die Onlineshops liefern aber auch nach Deutschland. Und das lässt Schratzberger mit dem Lieferkettengesetz in Berührung kommen. Durch die neue Gesetzeslage wird nun genauer deklariert, welche Artikel und Verpackungen dafür in Verwendung sind. „Unternehmen werden mit dem Gesetz nicht gezwungen, nachhaltig zu agieren, aber die einzelnen Bausteine müssen offengelegt werden. Die Kunden entscheiden dann selbst, ob sie mit allem einverstanden sind.“

EU will Zügel anziehen

Auch in Zukunft wird der Markt entscheiden, welche Produkte gekauft werden und welche nicht. Mit seinem jüngsten Gesetz zur Regulierung der Lieferketten setzt Deutschland aber den Versuch, bisher nicht berücksichtigte Kosten – wie eben Menschenrechte – in diese Formel einzupreisen. Dass dies grundsätzlich sinnvoll ist, darüber ist man sich auch in der heimischen Wirtschaft weitgehend einig. Man begrüße das Ziel, dass verantwortungsvolles Wirtschaften forciert wird, heißt es etwa von der Wirtschaftskammer. Wegen der engen wirtschaftlichen Verflechtungen mit Deutschland ist das Thema auch bei österreichischen Firmen längst angekommen.

Auch eine Harmonisierung der Regeln auf europäischer Ebene sei sinnvoll, meinen heimische Wirtschaftsvertreter. Der Rechtsrahmen müsse aber praktikabel und verhältnismäßig bleiben. Wie dieser auf EU-Ebene künftig aussehen wird, wird hinter den Kulissen aktuell leidenschaftlich diskutiert. In verschiedensten EU-Gremien wurden dazu Vorschläge erarbeitet. Derzeit sieht es so aus, als würden die Lieferkettenregularien der Europäischen Union noch strenger sein als jene in Deutschland. Laut aktuellen Entwürfen sollen sie tiefer in die Lieferketten eingreifen können und dabei noch viel stärker auf Umweltstandards eingehen. Bis das Gesetz auf europäischer Ebene aber beschlussfertig ist, wird noch einige Zeit vergehen – und viel lobbyiert. Wünschenswert wäre ein Gesetz, das zumindest unsere Mindeststandards in alle Ebenen der Lieferkette implementiert, gleichzeitig für die Unternehmen aber nicht zu einem unbekömmlichen Bürokratiemonster verkommt.

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