„Italien hat nie Staatsbewusstsein entwickelt“

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Florian Kronbichler, Grün-Abgeordneter im Parlament in Rom, über den „Räuberstaat“ und „Chaos-Mann“ Berlusconi.

Die Presse: Alle reden von der Krise Italiens. Ist das eine wirtschaftliche, eine kulturelle, eine politische Krise?

Florian Kronbichler: Das gehört alles zusammen. Die ökonomische ist nicht so gravierend, wie sie erscheint. Die Börse springt, je nachdem, was Berlusconi gerade sagt oder tut, wild auf und ab. Es geht aber um die Verlässlichkeit dieses Staates im Blick von außen. Die Italiener haben im Unterschied zu früher Angst, dass das Ausland Italien fallen lassen könnte. Das führt auch zu einer inneren Verunsicherung.

Warum hat Italien seit 1992 zu keinem stabilen System mehr gefunden?

Die tragenden Säulen des Staates, die Christdemokraten und die Linke, sind untergegangen, und der Staat ist von einem Chaosmann übernommen worden: Berlusconi. Im Unterschied zu unseren mitteleuropäischen Nachbarstaaten hat Italien nie ein wirkliches Staatsbewusstsein, einen Bürgersinn entwickelt. Den Staat betrachten die Italiener als „governo ladro“ – einen Räuberstaat. Berlusconi ist Ausdruck dieser tiefen antipolitischen Haltung, die im Italiener drinnen ist.

Was hat Berlusconi, das ihn immer wieder nach oben kommen lässt?

Berlusconi wird von den Kommentatoren und politisch Korrekten für genau jene Eigenschaften und Allüren angegriffen, bei denen sich die normalen Leute in die Rippen stoßen und die sie augenzwinkernd bewundern. Er hat eine Art Untergrundmehrheit von Leuten, die das öffentlich nicht zugeben würden. Die Erregung der Hochanständigen über ihn ist immer ins Leere gelaufen.

Das politische und mediale Establishment hat sich seit Jahren gegen Berlusconi verschworen, und er ist noch immer da.

Man wollte Berlusconi mit Moralismus kommen. Typisch dafür war im letzten Wahlkampf sein Auftritt in der TV-Show von Michele Santoro. Niemand hat geglaubt, dass Berlusconi zu der gegen ihn inszenierten Veranstaltung überhaupt hingehen würde. Er hat sich allen Vorwürfen gestellt und standgehalten, war gut gelaunt und hat sich alles gefallen lassen. Es kam gar nicht auf die Inhalte an. Das hat ihm auf einen Schlag vier, fünf Prozent gebracht.

Wenn es aber nur diese Italiener gäbe, könnte das Land nicht so gut funktionieren und solche Leistungen hervorbringen.

Es gibt zwei Charaktere, die das italienische Volk am besten verkörpern: Berlusconi auf der einen Seite, dieser Gigolo und fesche Lebemensch, und Pier Luigi Bersani, der Chef des Linksblocks auf der anderen: dieser leicht phlegmatische, verlässliche Gutmensch, väterlich, den man gern hat, von dem man einen Gebrauchtwagen kaufen würde – die Mortadella gewissermaßen. Die Italiener sind ja nicht nur Feierabendleute, Disco-Typen à la Berlusconi. Es gibt auch die anderen: treu, leidensfähig, sehr arbeitsam. Schon gut essen, aber auch sehr solid sein. Romano Prodi ist so einer. Die Grenze für dieses Italien ist in etwa die Emilia Romagna, mit Bologna als Hochburg.

Welches Italien verkörpert Beppe Grillo?

Berlusconi ist ein Schauspieler, er kommt ja auch vom Schauspiel. Seine Kreativität hat er ins Unternehmerische gewandt, er ist kreativ bis zur Gaunerhaftigkeit. Grillo ist als Gaukler auch eine Art Unternehmer. Mit sicherem Instinkt reitet er die Antipolitik. Er redet genau so, wie auf den Plätzen geschimpft und geflucht wird. Das macht er zur Kunst. Grillo ist brutal. Auch das hat in der italienischen Kunst eine Tradition, dieses Neapolitanische, die Fäkaliensprache – so wie der Italiener auf alles, was öffentlich ist, flucht. Mit keinem ist ein Bündnis zu schaffen: Wer mir am nächsten ist, ist eigentlich mein Feind. Der Erzfeind von Grillo ist die Demokratische Partei, obwohl Grillo ein Linker ist.

Legen Berlusconi und die „Grillini“ das politische System endgültig lahm?

Im Parlament benehmen sich die „Grillini“ wie eine Sekte. Das fordert seine Opfer. Es sind schon sechs Abgeordnete abgesprungen. Wer nicht nach der Pfeife von Grillo tanzt, wird wie in einer fundamentalistischen Gruppe mit der Verdammung bedroht. Sie arbeiten mit Symbolaktionen. Sie sind fleißig bei der Arbeit. Es gibt keine Gruppe, die so massiv präsent ist. Der italienische Parlamentarismus leidet ja unter der großen Abwesenheit seiner Parlamentarier. Meistens ist das Haus überhaupt leer. Und wenn sie da sind, sabotieren sie alles.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.10.2013)

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