Wenn man schreien will, aber kein Ton kommt

Wie man im Ernstfall reagieren soll, warum Opfer niemals »schuld« sind und Täter oft davonkommen.

Es kann der aktuelle Partner sein oder der Ex, ein Nachbar oder Freund, der Kollege oder der Chef, der Arzt, Lehrer, Psychotherapeut – oder wirklich der Fremde auf der Straße. Vergewaltigung kommt in allen möglichen Kontexten vor – genau deshalb sei es auch so schwer zu sagen, wie man am besten reagieren soll, sagt Ursula Kussyk. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Notrufberatung für vergewaltigte Mädchen und Frauen in Wien und Obfrau des Bundesverbands der Autonomen Frauennotrufe Österreichs.

Ihr unmittelbarster Rat: dem eigenen Gefühl vertrauen, wie man die Situation einschätzt. Wozu ist dieser Mann noch fähig? „Wir raten nicht explizit, sich zu wehren, weil man eben oft nicht abschätzen kann, wie gewalttätig jemand noch werden kann.“ Sieht man eine Chance, aus der Lage noch rauszukommen, könne man es natürlich probieren. All das ist freilich graue Theorie. In der Realität, so berichten betroffene Frauen, kann es sein, dass man zu gar nichts fähig ist. Dass man sich wehren will, aber der Körper nicht gehorcht. Dass man schreien will, aber kein Ton aus der Kehle kommt.


Völlig irreal. „Die Gewaltsituation löst aus, dass man sich völlig isoliert fühlt, glaubt, man sei mit dem Täter allein auf der Welt. Das kann irreal und albtraumhaft erlebt werden, man glaubt sich so ausgeliefert und vom Wohlwollen des Täters abhängig, dass man quasi wieder zum Kind wird“, erklärt Kussyk. Und sich unterwirft, um zu überleben – wobei bei der Rückkehr in die Situation des „kleinen Mädchens“ auch frühkindliche Ängste plötzlich wieder auftauchen können. Andere wiederum sind durchaus in der Lage, Überlegungen anzustellen: Soll ich versuchen, an diese Lampe zu kommen? Ihm eine überziehen? Wenn ja, wie reagiert er dann?

Wichtig sei jedenfalls: Es ist auch dann nicht die Schuld der Frau, wenn sie sich „nicht gut genug gewehrt“ hat. Klingt selbstverständlich, ist es nicht. „Schuld- und Schamgefühle“, sagt Kussyk, „gehören einfach dazu.“ Dabei könne es nie die Schuld des Opfers sein – auch nicht, wenn man sich in „gefährliche“ Situationen begeben hat. „Welche Männer überlegen denn ständig, ob sie sich gerade in eine gefährliche Situation begeben? Und zum Jungsein gehört dazu, dass man Sachen ausprobiert.“

Bis zu drei Monate kann eine posttraumatische Belastungsreaktion dauern, unter Umständen kann sie in eine Belastungsstörung übergehen. Es könne auch sein, sagt Kussyk, dass man scheinbar gut zurechtkomme und erst Monate später Probleme auftauchten, in Krisen oder bei einer eigentlich erfreulichen Schwangerschaft. Umgekehrt solle man auch nicht annehmen, „dass für den Rest des Lebens alles furchtbar ist. So stimmt es auch wieder nicht. Man kann natürlich wieder Spaß am Leben haben, und auch am Sex.“


Wenig Verurteilungen. Gut überlegt sein sollte indes eine Anzeige (Beratungsstellen bieten dazu Rechtsberatung). In vielen Fällen nämlich: große Belastung, wenig Erfolg. Die meisten Verfahren werden eingestellt. 2012 etwa wurden 86 Männer wegen Vergewaltigung verurteilt. Zwei, zweieinhalb Jahre kann so ein Verfahren dauern. „Sehr oft steht Aussage gegen Aussage“, sagt Kussyk. „Und das ist ja auch nicht verwerflich, dass es im Zweifel für den Angeklagten – oder für den Verdächtigten – heißt. Der Wunsch der Opfer nach Gerechtigkeit lässt sich im Strafrecht nicht verwirklichen.“ Hier gehe es nur um Beweise.

Manchmal auch darum, „was sich die Mitarbeiter des Justizapparats vorstellen können“. Dass eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die vom Stiefvater vergewaltigt wurde, trotzdem wieder die Wohnung der Mutter betritt, konnte sich ein Staatsanwalt zum Beispiel nicht vorstellen, berichtet Kussyk aus einem aktuellen Fall.

Die öffentliche Meinung laute freilich: sofort anzeigen. „Als ob das ein Wahrheitsbeweis wäre“, sagt Psychologin Sonja Wohlatz. „Die Frustration, wenn das Verfahren eingestellt wird, ist hoch. Viele haben dann wieder das Gefühl, sie hätten etwas falsch gemacht. Ihnen wird nicht geglaubt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2013)

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