Teurer Stillstand in Berlin: Unsere Politik macht leider Schule

Der deutsche Koalitionsvertrag trägt österreichische Züge: Ein zielloser Kompromiss aus "Weiter so!" und "Lieber zurück", der die Zukunft aufs Spiel setzt.

Von Angela Merkel kann man Alltagsweisheit lernen. Vor Kurzem gestand die deutsche Kanzlerin seufzend ein, wie sich die mühsamen Koalitionsverhandlungen mit der SPD in ihr Weltbild fügen: „Es ist ja ohnehin so, dass man manchmal das halbe Leben damit verbringt, etwas Schlechtes zu verhindern, und gar nicht mehr dazu kommt, etwas Gutes zu machen.“ So lustlos und defensiv spricht, wohlgemerkt, die mächtigste Frau der Welt, die eben erst einen fulminanten Wahlsieg errungen hat und ein Land regiert, auf dem alle Hoffnungen in Europa ruhen. So fällt auch der Koalitionsvertrag aus, den CDU, CSU und SPD nun unterzeichnet haben: Wer nur Schlechtes verhindern will, kann nichts Gutes schaffen.

Man darf den angehenden Großkoalitionären freilich nicht nachsagen, sie hätten sich die Sache leicht gemacht. Viele Wochen zähes Ringen, zahllose Treffen samt Abbruch und Eklat und schließlich ein Showdown bis in den frühen Morgen waren nötig, um 185 Seiten Fahrplan zu formulieren. Dennoch fehlt ihm Entscheidendes: eine Präambel, die eine Richtung vorzeichnet. Es gibt kein Projekt, keine Vision, keine Ideen, die in die Zukunft weisen. Das Schicksalsthema Europa bleibt dem Europawahlkampf vorbehalten.

Vier Fünftel aller Sitze im Bundestag: Eine so große Koalition, finden die Deutschen, ist demokratiepolitisch bedenklich und lässt sich nur durch mutige Weichenstellungen rechtfertigen. Beim letzten schwarz-roten Bündnis lag mit der „Agenda 2010“ das gemeinsame Projekt schon vor. Heute ist alles anders. Die SPD ist in der Opposition nach links gerückt, hat ideologische Gräben neu ausgeschaufelt und sich dahinter verschanzt – bis heute.

Konträre Konzepte standen sich in den Verhandlungen schroff und unversöhnlich gegenüber. Für die Union galt: Alles gut, weiter so. Die SPD wollte ihre eigene Reformen rückgängig machen. Das konsensselige Schulterklopfen, das den Österreichern von ihren „Großparteien“ so unwohl vertraut ist, bleibt den Deutschen fremd. Wo es hier knirscht, da kracht es auch. Aber das Ergebnis wirkt dann doch großkoalitionär österreichisch: Es geht weder vor noch zurück. Es herrscht Stillstand.

Um das Scheitern zu kaschieren, verteilen beide Seiten teure Geschenke an ihre treuen Wähler. Besonders die Pensionisten werden reich bedacht. Auch das kann Österreicher nicht überraschen. Aber immerhin wollen weder Union noch SPD neue Schulden aufnehmen. Die Union ließ Steuererhöhungen nicht zu. Also werden jetzt die Sozialversicherungen geplündert. Neue Möglichkeiten zur Frühpension bringen vorbildhafte Reformen ins Wanken. Alles auf Kosten künftiger Generationen.

Die Sozialdemokraten haben, ihrem schwachen Wahlergebnis zum Trotz, dem Pakt ihren Stempel aufgedrückt. Für die Union hat es sich gerächt, dass ihr Wahlprogramm nur aus Mutti und Mütterrente bestanden hat. Der gefährlich hohe Mindestlohn wird Arbeitsplätze kosten. Vom Doppelpass, mit dem die SPD ihre türkische Klientel zufriedenstellt, lässt sich mit Recht fragen, ob er Integration nicht eher verhindert als fördert. CSU-Chef Seehofer boxt stur seine Pkw-Maut für Ausländer durch, seine beiden Koalitionspartner hoffen noch, dass sie ohnehin EU-rechtswidrig ist. Das war's? Das war's.

Der teure Stillstand setzt die Zukunft aufs Spiel. Für die Euro-Krisenstaaten, denen die Deutschen so viel abverlangen, sind solche Signale fatal. Auch die SPD kann sich nicht freuen. Sigmar Gabriel hat das Damoklesschwert der Mitgliederbefragung gekonnt geschwungen, aber im Dezember hängt es über seiner Partei – und über ganz Deutschland.

Vielleicht geht ja alles gut. Vielleicht ist das gestrige Ergebnis ja auch gar nicht so wichtig. Die jüngere Erfahrung lässt solche Hoffnung zu. Denn nichts von dem, was Merkel jemals beherzt angegangen ist, ist in einem Koalitionsvertrag gestanden: die Euro-Krisenpolitik, die Energiewende, die Abschaffung der Wehrpflicht. Vielleicht muss einfach wieder etwas Unerwartetes passieren, damit die deutsche Politik zeigt, was sie kann. Ganz Europa wartet darauf.

E-Mails an:karl.gaulhofer@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Stillschweigen über die Verteilung der Ministerien: SPD-Chef Gabriel.
Außenpolitik

SPD: Unmut über Geheimhaltung der Ministerposten

Wer bekommt in Deutschlands Großer Koalition welchen Ministerposten? Die SPD-Parteibasis ist mit der Geheimniskrämerei unzufrieden.
Außenpolitik

Deutschland: Merkels Koalition ohne Köpfe

Der Vertrag für eine Große Koalition ist unterschrieben, aber die Ressortverteilung bleibt offen. In der Sozialpolitik konnte die SPD viel durchsetzen, Steuererhöhungen hat die Union verhindert.
Es ist vollbracht: Gabriel, Merkel und Seehofer präsentieren den Koalitionsvertrag
Außenpolitik

Der Koalitionspakt: Was auf die Deutschen zukommt

Von Mindestlohn über Mütterrente bis Maut: SPD und CDU und CSU haben Lieblingsprojekte durchgebracht. Die Wohltaten im Sozialbereich und die Investitionen schlagen mit 23 Milliarden Euro zu Buche, Herkunft unklar.
Außenpolitik

Gleichheitsgrundsatz: Deutsche Maut mit EU-Sprengstoff

Union und SPD haben sich auf eine Abgabe für ausländische Autofahrer geeinigt. Brüssel wartet nun auf den Gesetzesentwurf.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.