In den südosteuropäischen Ländern reagieren die Menschen auf Vorbehalte im Westen gekränkt.
Belgrad/Cluj. Sieben Jahre schlägt sich der 28-jährige Robert im rumänischen Cluj schon als Kellner durchs Leben. 60 Wochenstunden und ein Monatssalär von etwas mehr als 300 Euro ist er genauso gewohnt wie Arbeitgeber, die keine Sozialabgaben entrichten oder monatelang keine Löhne zahlen. Finanznöte haben den früheren Geschichtsstudenten einst zum Studiumabbruch gezwungen. Und Finanznöte könnten den Rumänen auch veranlassen, seiner Heimat für immer den Rücken zu kehren: „Die Hälfte meiner früheren Kellnerkollegen arbeitet schon in London. Ich liebe meine Stadt und mein Land. Aber wenn sich meine Lage nicht entscheidend bessert, werde ich auch nach Großbritannien emigrieren.“
Ab 1. Jänner dürfte ihm dies leichter fallen. Robert kann sich dann in der ganzen EU legal und ohne Einschränkungen oder der Notwendigkeit einer Arbeitserlaubnis auf Jobsuche machen. Der neuen Beweglichkeit im Südosten des kriselnden Wohlstandsbündnisses sehen Migrations- und Arbeitsmarktforscher aufgrund der bisherigen Erfahrungen eher gelassen entgegen. Für aufgeregten Wellenschlag sorgt dies jedoch auf dem politischen Parkett. Vor allem in Großbritannien, aber auch in Deutschland und den Niederlanden werden von Politikern die Ängste vor einer neuen Welle von Armutsimmigranten geschürt. Potenzielle Arbeitssuchende aus Bulgarien und Rumänien werden mit „Sozialhilfetouristen“ und Angehörigen der Roma gleichgesetzt.
Zur Abschreckung von Einwanderern hat die britische Regierung des konservativen Premiers David Cameron gleich ein ganzes Bündel von Entmutigungsmaßnahmen beschlossen. So werden Neuankömmlinge ab Januar in den ersten drei Monaten nach Einwanderung keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben, der Zugang zu Wohngeldzahlungen wird ihnen genauso erschwert wie jener zu Studienstipendien. Sein Maßnahmenpaket werde Großbritannien zu einem „weniger attraktiven Ort für EU-Einwanderer machen, die herkommen und versuchen auf Staatskosten zu leben“, verteidigt Cameron seinen Kurs.
Mehr als vier Millionen Arbeitsemigranten aus Rumänien und Bulgarien haben sich seit den 1990er-Jahren vor allem in die südeuropäische Fremde aufgemacht, um ihre Familien mit harter Arbeit über Wasser zu halten. Die neuen Abschreckungsbotschaften stoßen bei den Adressaten auf gekränkte Reaktionen. Die Isolierung Großbritanniens und das Spielen mit den Ängsten der Leute seien nicht der richtige Weg, sagt Bulgariens Präsident Rossen Plewneliew. Der Staatschef hat seine Unternehmerkarriere in den 1990er- Jahren selbst auf deutschen Baustellen begonnen. Die Diskriminierung des armen Südens wirft die Tageszeitung „Duma“ dem reichen Norden der EU vor: „London, Paris, Berlin und ihr anderen, die ihr Stimmung gegen Einwanderer macht: Ihr wisst genau, dass wir keine Menschen zweiter Klasse sind. Warum behandelt ihr uns dann als solche?“
Erfahrungen positiv
„Ihr seid hier willkommen“, müht sich derweil das wirtschaftsliberale Wochenblatt „Economist“ in London in einem offenen Brief an Rumänen und Bulgaren, die frostigen Ausladungsbotschaften des Premiers zu entkräften: „Die meisten werden positiv überrascht sein, wenn die große Mehrheit von euch ins Land kommt, um zu arbeiten statt beim Staat zu schnorren.“
Tatsächlich sind die bisherigen Erfahrungen mit Arbeitskräften der beiden Staaten auch in Deutschland eher positiv. Nur neun Prozent der seit dem EU-Beitritt 2007 eingewanderten Bulgaren und Rumänen sind Sozialhilfeempfänger – ein weit geringerer Anteil als unter anderen ausländischen Nationen und nur wenig mehr als bei deutschen Einheimischen. 80 Prozent gehen einem Broterwerb nach. Ein gutes Fünftel verfügt über ein abgeschlossenes Hochschulstudium, knapp die Hälfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wie sich die volle Freizügigkeit und die anhaltende Krise im Südosten auf die Zuwanderungsstatistiken niederschlagen werden, ist laut Ökonomen und Migrationsforschern Kaffeesatzlesen. Die deutsche Bundesagentur für Arbeit (BDA) rechnet für 2014 mit 180.000 Arbeitsmigranten aus den beiden Ländern.
Nein, der Wegfall der Einschränkungen bei der Jobsuche im Ausland werde seine Entscheidung über eine Auswanderung nicht beeinflussen, versichert Robert: „Eher die wirtschaftliche Notwendigkeit.“ Eine neue Emigrationswelle aus seinem Land erwartet der Kellner nach dem 1. Jänner nicht: „Die meisten, die wegwollten, sind ohnehin längst gegangen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2013)