Die Kommission spielt mit ihrer abgehobenen Ignoranz nur den populistischen Gegnern einer geeinten Union in die Hände.
Die Konfrontation mit einem Problem erlaubt im Wesentlichen drei Ansätze: offensive Auslotung von Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation. Rückzug und passives Abwarten. Oder, und das ist die wohl einfachste Variante: abstreiten der Existenz des Problems.
Die EU-Kommission hat zweifellos den dritten Weg gewählt. Vier Mitgliedstaaten – Großbritannien, Deutschland, die Niederlande und Österreich – haben die Behörde vor Monaten in einem Brief dazu aufgefordert, Lösungsmöglichkeiten für ein gefürchtetes Phänomen zu erläutern: die sogenannte Armutsmigration. Zuwanderer aus vorwiegend ost- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten, die keine Aussicht auf Arbeit hätten, würden in reichere EU-Länder reisen, um dort Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen – so lautet im Groben der Vorwurf, der nun insbesondere in London und Berlin hohe Wellen schlägt. Der aktuelle Anlassfall für die große Erregung ist – erraten – die Arbeitsmarktöffnung für Bulgaren und Rumänen am 1. Jänner 2014.
Viviane Reding reagierte enerviert auf das Schreiben und leugnete dessen Grundlage. In einem Positionspapier der Justizkommissarin heißt es: „In den meisten Mitgliedsländern tragen mobile EU-Bürger als Nettozahler zum Sozialsystem des Aufnahmestaates bei – sie zahlen mehr an Steuern und Sozialbeiträgen, als sie im Gegenzug an Leistungen erhalten.“
Nun ist das angebliche Problem der Armutsmigration tatsächlich keineswegs erwiesen oder gar mit Zahlen belegbar. Das österreichische Innenministerium etwa hat längst eingestanden, dass es hierzulande keinen Sozialtourismus gibt (siehe Seite 1). Den Brief an Brüssel habe man aus Solidarität mit den Partnerländern unterzeichnet. Doch Reding hat den Kern des Problems offenbar nicht begriffen: Es ist dies die in Zeiten der Krise verstärkte Angst vor einem Jobverlust durch die größere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und davor, vom ohnehin kleinen Kuchen künftig ein noch schmäleres Stück zu bekommen. Ohne Aufklärungsarbeit und klare Regeln schafft diese Angst jede Menge Platz für Populismus – was wohl keineswegs im Sinn der Kommission sein kann. Mit ihrem Handeln erreicht die Behörde nun aber das Gegenteil des gewünschten Effekts: Beim Ratstreffen der Staats- und Regierungschefs vor zehn Tagen polterte David Cameron einmal mehr gegen das Freizügigkeitsprinzip der Union. Dieses müsse eingeschränkt werden, auch im Hinblick auf eine mögliche Erweiterung des Staatengebildes um Serbien und Albanien, so der britische Premier. Um die Europa-Kritiker in der eigenen Partei zu befrieden, will Cameron EU-Ausländern den Zugang zu den britischen Sozialsystemen erschweren und plädiert sogar für nationale Zugangsquoten – ein klarer Verstoß gegen geltendes EU-Recht.
Doch die Ideen des britischen Premiers finden immer mehr Anhänger. Auch mehrere deutsche Kommunen sprechen sich gegen die Arbeitsmarktöffnung aus. Ein Urteil des Landessozialgerichts Essen heizte die Debatte in den vergangenen Wochen zusätzlich an: Der Richter entschied im Sinn des Gleichheitsprinzips, dass auch diejenigen EU-Ausländer Anspruch auf Sozialleistungen in Deutschland haben müssten, die dort gar keine Arbeit finden.
Die Kommission ignoriert das Rumoren gekonnt. Die Mitgliedstaaten sollten „selbst tätig werden“ und klare Verhältnisse im Rahmen des EU-Rechts schaffen, fordert Reding. Freilich: Die EU erlaubt gewisse Bestimmungen, um das Sozialsystem des Aufnahmestaates vor „unangemessenen finanziellen Belastungen zu schützen“.
Für eine Beruhigung der durch viele Falschinformationen verwirrten und oftmals verängstigten Bürger reicht das aber nicht. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre es daher, das Vorhandensein eines Problems überhaupt einmal einzugestehen und Aufklärung zu leisten. Sonst wird das Vertrauen der Menschen in eine Institution, deren Reputation ohnehin nicht die beste ist, weiter sinken. Doch die Kommission scheint nicht zu begreifen, dass abgehobenes Leugnen nur den populistischen Gegnern eines geeinten Europa in die Hände spielt.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.12.2013)