Sergio Marchionne: Der "Marsmensch" aus Turin

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Mit der Komplettübernahme von Chrysler sorgt Fiat-Chef Sergio Marchionne in Italien für einen Freudentaumel. Grundsätzlich ist das Verhältnis des Italo-Kanadiers zu seiner alten Heimat jedoch trotz aller Erfolge eher schwierig.

Ein schwarzer Pullover. Müsste man Fiat-Chef Sergio Marchionne mit einem Gegenstand beschreiben, dann wäre es wohl dieser schwarze Pullover. Marchionne trägt ihn, wenn er die Arbeiter in einem der vielen Werke des Autoherstellers besucht, er trägt ihn, wenn er die Vorstandssitzungen bei Fiat oder Chrysler leitet, und er trägt ihn mitunter auch bei Abendveranstaltungen, bei denen auf der Einladung „Black Tie“ (Smoking) mehr oder weniger fix vorgeschrieben wurde. Wer im Internet nach Fotos von Marchionne sucht, wird ihn kaum in einer anderen Adjustierung finden als dem schwarzen Pullover, einem karierten Hemd darunter und einer schwarzen Bundfaltenhose. Und wenn es doch noch ein Foto mit Anzug und Krawatte gibt, dann ist es meist alt. Aus seiner Zeit vor Fiat.

Denn der Pulli ist nicht nur ein modischer Spleen von Marchionne. Er ist auch nicht der reinen Praktikabilität geschuldet, mit der Marchionne sein Gepäck beim ständigen Pendeln zwischen Turin, Detroit und dem privaten Haus in der Schweiz gering halten möchte, indem er überall die gleiche Garderobe in den Kästen hängen hat. Er ist zuallererst ein Statement. Ein Statement gegen ein Italien, das zwar viel von einem schönen Schein nach außen hält, sich aber wenig um das Dahinterliegende kümmert.

Himmelfahrtskommando.Als Marchionne 2004 den Job in Turin antritt, ist es ein wirtschaftliches Himmelfahrtskommando. Der einstige Paradekonzern schreibt schwere Verluste. Vier Chefs wurden in den zwei Jahren zuvor verschlissen. Von Marchionne, der vor Fiat auch noch nie etwas mit der Autoindustrie zu tun hatte, wird kaum erwartet, dass er nicht der fünfte sein wird, der schon bald wieder seinen Hut nehmen muss. Doch Marchionne macht vieles anders als seine Vorgänger. Zuerst einmal sieht er sich genau an, womit er es zu tun bekommen hat. Er geht durch die Gänge des Fiat-Konzernsitzes und spricht mit allen Managern einzeln. „Wer sind Sie und was genau machen Sie?“, lautet dabei die Standardfrage. Die Führungsriege des Konzerns ist zu diesem Zeitpunkt in zwei Verwaltungsgebäuden untergebracht. „Eines muss reichen“, sagt Marchionne und entlässt als eine der ersten Amtshandlungen 90 Manager. Meist sind es ältere, die durch deutlich weniger jüngere und motiviertere ersetzt werden. Durch jene, die Marchionne bei seinen Gesprächen überzeugt haben.

„In Italien wird geredet, in den USA wird gehandelt“, wird er später einmal zitiert. Dies will er bei Fiat ändern. Einer Firma, die vor 2004 von einer Unzahl an sehr elegant gekleideten Herren geführt wurde, die sich jedoch weigerten, Entscheidungen zu treffen, Risken zu übernehmen und die eigene Leistung infrage zu stellen. Einer Firma, die früher von den Mitarbeitern oft scherzhaft „Auto-Produktionsministerium“ genannt wurde.

Anfangs werden die radikalen Maßnahmen Marchionnes in der Öffentlichkeit noch kaum wahrgenommen. Als es dazu kommt, ist es sozusagen schon passiert: Fiat ist auf die Gewinnerstraße zurückgekehrt. Bereits im letzten Quartal 2005 kann die Autosparte von Fiat wieder einen operativen Gewinn erzielen. In den darauffolgenden Jahren werden sogar satte Überschüsse eingefahren. In dieser Zeit legt Marchionne auch endgültig Krawatte und Sakko ab und streift sich den Pullover über. Ganz nach dem Motto: Ich bin anders und deshalb erfolgreich – oder umgekehrt.

In Italien wird er für die Rettung von Fiat gefeiert wie ein Superstar. Die Politik, die Medien, selbst die Gewerkschaften beklatschen ihn. Wirklich warm wird das Land mit dem Heimkehrer aber nie. In der Konzernzentrale in Turin lautet der schlichte Spitzname für Marchionne: der „Marsmensch“.

Dabei ist Marchionne gebürtiger Italiener. Erst mit 14 Jahren wandert der Sohn eines Carabiniere aus den Abruzzen mit seinen Eltern nach Kanada aus. Bis zu seinem 20. Lebensjahr habe er gebraucht, um Englisch mit so wenig italienischem Akzent sprechen zu können, dass er sich nicht mehr genieren musste, erzählt er später einmal. Doch in Kanada nimmt er schon bald den nordamerikanischen Zugang zum Leben auf: weniger Dolce Vita, mehr American Dream.

Marchionne ist jedoch kein typischer Karrierist, der von Anfang an Vollgas gibt. Erst mit 31 schließt er sein Studium ab. „Mein Vater dachte, ich würde Taxifahrer“, sagt er dazu einmal. Die Ausbildung ist dafür umso breiter gefächert. Marchionne hat nicht nur einen MBA (Master of Business Administration). Er schließt zudem auch ein Jus- und ein Philosophiestudium ab. Nicht selten soll er später in Ansprachen auf Wittgenstein, Nietzsche oder Popper verweisen.

Der Einstieg ins Berufsleben erfolgt jedoch klassisch: als Berater bei Deloitte. Danach arbeitet er als Controller bei kanadischen Unternehmen. Mit 40 wird er schließlich Finanzchef der kanadischen Verpackungsfirma Lawson Mardon, die 1994 von der Schweizer Alusuisse übernommen wird. Drei Jahre später ist er Chef von Alusuisse. Frühere Mitarbeiter erklären das Geheimnis seines Erfolges mit seiner geistigen Vielfalt – er sei ein Philosoph mit dem Gefühl fürs Ganze, der sich aber auch in die Details der einzelnen Zahlen vertieft. Seine Entscheidungen seien zwar schnell, aber nie aus dem Bauch heraus, sondern immer auf der Basis von fundierten Zahlen und rationellen Überlegungen.

2002 wechselt Marchionne schließlich zum angeschlagenen Schweizer Konzern SGS, den er innerhalb kurzer Zeit wieder auf wirtschaftlich stabile Beine stellt. Teilhaber bei SGS ist eine gewisse Familie Agnelli aus Turin – die Eigentümer des Fiat-Konzerns. Dort holt man ihn 2003 zuerst in den Aufsichtsrat, im Jahr darauf soll er die Sanierung des Konzerns vom Chefposten aus übernehmen.

Schon bald nach der gelungenen Sanierung von Fiat wird jedoch klar, dass Marchionne seine Ziele noch lange nicht als erreicht ansieht. Fiat müsse wachsen, um langfristig überleben zu können. Der Konzern produziert zu dieser Zeit rund zweieinhalb Millionen Autos pro Jahr, die kritische Größe sei jedoch ein Mindestmaß von fünf Millionen. Marchionne sucht daher schon bald nach möglichen Partnern. Zuerst ist lange Peugeot Citroën im Gespräch, als jedoch 2009 der US-Konzern Chrysler in die Insolvenz schlittert und vom amerikanischen Staat aufgefangen werden muss, ist Marchionne zur Stelle. US-Präsident Barack Obama präsentiert er seinen Plan, spritsparende Kompaktautos auf Fiat-Basis in die USA zu bringen. Der Plan gefällt. Die Italiener steigen bei Chrysler ein und erhöhen sukzessive ihre Anteile.


Die Entfremdung. Diese neue Liebe zu Chrysler und den USA sorgt aber zunehmend für Verstimmung in Italien, wo aufgrund der Krise das Geschäft inzwischen wieder in die roten Zahlen gerutscht ist. Bald werden Gerüchte laut, dass ein künftiger Konzern seinen Sitz in Detroit haben würde, die von Marchionne nicht wirklich zurückgewiesen werden. Den Höhepunkt erreicht die Entfremdung aber, als er öffentlichkeitswirksam im TV sagt: „Fiat würde es ohne Italien besser gehen.“ Gewerkschafter und Nationalisten rasten förmlich aus, in vielen Städten gibt es Boykottaufrufe lokaler Gruppierungen samt Protestaktionen vor Fiat-Händlern.

Anfang Jänner hat Marchionne nun die Komplettübernahme von Chrysler angekündigt. Der Zusammenschluss soll Milliarden für Entwicklungen und die Modernisierung der Werke bringen. Auch in Italien. Gleichzeitig werden sich die italienischen Werke künftig noch stärker in Konkurrenz mit ihren amerikanischen und internationalen Pendants befinden. Dass der Freudentaumel in Italien über den jüngsten Schachzug des „Marsmenschen“ von Turin also lange anhält, darf bezweifelt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2014)

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