Das Festival eröffnete unter Trommelwirbel mit Wes Anderson. „The Grand Budapest Hotel“ beginnt als Hommage an Stefan Zweig und gleitet ab Richtung Indiana Jones. Doch noch andere Regiehelden sind heuer am Start.
Willkommen in der kindlichen Wunderwelt des Wes Anderson! Mit einer Zahnradbahn wie aus der Puppenstube geht es hinauf zum „Grand Budapest Hotel“, einem luxuriösen Kasten in einer imaginären osteuropäischen Provinz. Wir schreiben 1932, das alte Europa zelebriert sein Abendrot, während nahebei die „ZZ-Division“ schon für den Blitzkrieg rüstet. Aber noch regiert Gustave H. (Ralph Fiennes), ein legendärer Concierge, Beglücker verwelkter Damen und Mentor eines kleinen Pagen aus dem Morgenland. Durch die prachtvolle Lobby (gedreht wurde in einem Jugendstil-Kaufhaus im ostdeutschen Görlitz) schwirren ähnlich viele Hollywood-Stars wie draußen über den roten Teppich der Berlinale. Ob Harvey Keitel, Willem Dafoe, F. Murray Abraham, Tilda Swinton oder Adrien Brody – alle wirken wie berauscht davon, für den Kultregisseur aus Texas ein paar Sätze in die Kamera sprechen zu dürfen.
Mit diesem Fanal hat das Berliner Filmfestival begonnen. Drei echte Erfolge adeln den mit 44 noch jungenhaft wirkenden Anderson zur erfüllten Hoffnung des US-Kinos: Rushmore (1998), The Royal Tenenbaums (2001) und Moonrise Kingdom (2012) – skurrile Komödien voller Charme und Melancholie. So war schon bei der Pressevorführung der Andrang so groß, dass ein zweiter großer Saal improvisiert werden musste.
Herzenslust am historischen Fauxpas
Anfangs scheint Anderson auch zu liefern. Besessen vom Detail führt er seine eklektische Version eines untergegangenen Europa vor, inspiriert von Stefan Zweigs „Welt von Gestern“. Jede Szene im Hotellift gerät zum Tableau, arrangiert wie für ein Familienfoto. Freilich: Die meisten Bilder hängen schief. Anderson gönnt sich nach Herzenslust einen historischen Fauxpas nach dem anderen.
Es ist eben seine artifizielle, leicht durchgeknallte Vision von „Good old Europe“, die er opulent in Szene setzt, oft voll naivem Zauber. Aber Blättern im Bildband ergibt noch keinen großen Film. Seiner Handlung nach ist „The Grand Budapest Hotel“ recht banales Abenteuerkino. Atemlos, von der Off-Stimme vorangetrieben, spult sich der Plot ab. Von der liebevollen Charakterzeichnung skurriler Typen, die Anderson berühmt machte, finden sich hier nur Spuren. Psychologie kann und soll sich nicht entfalten. Es treten kaum Frauen auf, zwischengeschlechtliches Sentiment würde nur stören. Die Stars bleiben Tupfer im Tableau. Selbst Fiennes als Wunderwuzzi-Concierge ist psychologisch so flach wie James Bond. Gegen Ende wird der Bildband zum Comic, dem sonst so stilsicheren Anderson entgleiten die Zügel. Etwa die Verfolgungsjagd auf der Skipiste: Was als charmantes Retrozitat aus Hitchcocks „Vertigo“ beginnt, weicht im Zielhang plumper Videospielästhetik. Es ist eben doch nicht Zweigs Geist, der hier waltet, sondern Indiana Jones und ein Regiejäger des verlorenen Europa.
Diesen Berlinale-Beginn wird das Festival hoffentlich noch übertrumpfen. Zunächst hat es so ausgesehen, als sollte dessen vorsichtige, wenn auch überfällige Reform weitergehen: Die erste Ankündigung zum Wettbewerb vorigen Dezember ließ Cinephile auf mehr (sanfte) Rückbesinnung auf künstlerische Werte hoffen. Da wurden neben Anderson noch einige vielversprechende Wettbewerbsbeiträge annonciert: etwa der deutsche Ausnahmeregisseur Dominik Graf mit seiner ersten Kinoarbeit seit acht Jahren („Die geliebten Schwestern“, ein Epos um Friedrich Schiller), der griechische Hoffnungsträger Yannis Economides (das Killerdrama „Stratos“) und sensationellerweise sogar mit dem französischen Altmeister Alain Resnais (die Alan-Ayckbourn-Adaption „Life of Riley“) einer der echten Granden des Weltkinos.
Jetzt, da das Rennen um den Goldenen Bären beginnt, hält sich die Begeisterung aber schon wieder in Grenzen: Direktor Dieter Kosslick, zuvor jahrelang ein Zentralgestirn der sozialdemokratischen Filmförderung, hat sich offenbar wieder auf deren Prinzipien als Leitfaden besonnen: tagespolitische Themen von Afghanistan-Einsatz bis Asyl – und deutsche Förderbeteiligung, was etwa den heuer starken Südamerika-Anteil der Konkurrenz erklärt. Aus der Sundance-Connection der Berlinale hat man sich noch das ambitionierte Langzeitexperiment „Boyhood“ von US-Regisseur Richard Linklater geholt, aber wie bei den großen Galapremieren außer Konkurrenz – George Clooneys Weltkriegsabenteuer „Monuments Men“, Lars von Triers kalkuliertem Skandalfilm „Nymphomaniac“ (erster Teil) oder dem überschätzten Oscar-Kandidaten „American Hustle“ – hängt man hinten nach: In der beschleunigten Internet-Ära hat deren mediale Durcharbeitung bereits stattgefunden.
Sieht man die Berlinale aber – wie Kosslick es offenbar tut – vor allem als Wirtschaftsfaktor und soziales „Event“, dessen Programm in alle Richtungen ausufert, um genug Wirbel zu produzieren, dann sind tatsächliche künstlerische Ambitionen nebensächlich. Feierlaune ist garantiert – unabhängig von der Qualität des Eröffnungsfilms.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2014)