Goldener Bär für einen Film Noir aus China

Actor Liao Fan actress Kuroki and director Diao Yinan pose with their prizes during awards ceremony of 64th Berlinale International Film Festival in Berlin
Actor Liao Fan actress Kuroki and director Diao Yinan pose with their prizes during awards ceremony of 64th Berlinale International Film Festival in Berlin(c) REUTERS (TOBIAS SCHWARZ)
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„Black Coal, Thin Ice“ von Yinan Diao, ein klassischer Detektivfilm aus China, hat überraschend bei der Berlinale abgeräumt. Silber ging an Wes Anderson. Favorit Richard Linklater musste sich für „Boyhood“ mit der besten Regie begnügen.

Wäre es nach Kritikern und Publikum gegangen, hätte die Berlinale anders geendet: Sie erhoben Richard Linklaters „Boyhood" bei der Premiere am Donnerstag sogleich zu ihrem eindeutigen Favoriten. Aber die Wege der Jury sind unergründlich. Bei der Gala am Samstagabend hat die faszinierende Langzeitstudie über das Heranreifen eines Buben zum jungen Mann nur einen Silbernen Bären für die „Beste Regie" bekommen. Abgeräumt hat stattdessen ein Film aus China, mit dem kaum jemand gerechnet hat: „Black Coal, Thin Ice", eine düstere, spannende Detektivgeschichte von Yinan Diao nach den klassischen Vorbildern aus Frankreich und Amerika.
Der Hauptdarsteller Fan Liao erhielt zudem den Preis für den Besten Schauspieler. Er spielt den abgehalfteren Ex-Polizisten Zhang, der in der nächtlichen, trostlosen Provinzstadt auf eigene Faust einen rätselhaften Mord mit verstreuten Leichenteilen aufklären will. Einen ähnlichen Fall gab es zu seiner aktiven Zeit. Die Spuren führen zur Witwe des damaligen Opfers, einer schönen, geheimnisvollen Femme Fatale in einer Putzerei, in die sich Zhang prompt verliebt. Ein solider Krimi, der wie ein eleganter Maßanzug fast zu perfekt in die Genre-Vorgaben des Film Noir eingepasst ist.
Der Silberne Bär ging an Wes Andersons bunten Bilderzirkus „The Grand Budapest Hotel", eine muntere Hommage an die naiv-opulente Bilderwelt von Kinder („Die Presse" berichtete ausführlich).

Durch die Kindheit begleiten. Doch die Trophäen reflektieren kaum, dass Kinder bei den 64. Internationalen Filmfestspielen von Berlin in einem ganz anderen Sinne so präsent waren wie noch nie: als Protagonisten, als Sinn und Zentrum von Filmen. Davon zeugten neben „Boyhood" und dem hoch gelobten österreichischen Beitrag „Macondo" noch eine Reihe anderer sehenswerter Streifen. Es hat sich gelohnt, mit der Handkamera in die Knie zu gehen und die Welt aus ihren Augen zu betrachten. Denn in so manchen Arbeiten geriet dieser Blick auf eine neue Weise einfühlsam und authentisch - ein zweiter roter Faden in diesem Festival.
Über die kindliche Perspektive der Wirklichkeit auf der Spur war auch Edward Berger in „Jack", dem Porträt eines von der Mutter vernachlässigten Buben in Berlin. Celina Murga beobachtete im argentinischen Beitrag „La tercera orilla" (Das dritte Ufer) geduldig einen Teenager, der sich von seinem Macho-Vater abnabelt. Solche Filme berühren zart und inwendig, ohne aufzutrumpfen.
Wie auch „Boyhood", der große Favorit in der Publikumsgunst. Der 53-jährige Linklater ist ein Alchemist. Gelassen und mit langem Atem mischt der Texaner eine Rezeptur für sein cineastisches Gold: einfach nur das wahre Leben zeigen, mit seinen kleinen Freuden und Leiden, und es dabei in reine Poesie und große Kunst verwandeln. Schon mit „Before Sunrise", „Before Sunset" und „Before Midnight" war er nahe dran. Die Trilogie lässt im Dekadentakt anhand desselben Paares spüren, wie sich Liebe anfühlt - im Alter von 22, 32 und 42 Jahren. Auch „Boyhood" ist ein ernsthaftes Spiel mit der Zeit. Der Film wurde über zwölf Jahre gedreht, jedes Jahr ein paar Tage.
Er begleitet eine amerikanische Patchwork- und Durchschnittsfamilie beim Älterwerden. Vor allem den kleinen Mason, der wie sein Darsteller Ellar Coltrane am Anfang sechs, am Ende 18 Jahre alt ist. Dazwischen liegen Umzüge, die Beziehungswirren der geschiedenen Mutter (Patricia Arquette), die immer an die falschen Männer gerät, die Ausflüge mit dem leiblichen, lustigen und wenig verantwortungsfreudigen Vater (Ethan Hawke), die erste Liebe, der erste Liebeskummer. Wie das ganz gewöhnliche Leben so spielt, oft recht bieder, selten erhebend - und doch voller Witz und Charme.
Am Ende beginnt für Mason eine neue Romanze. Wie sich die beiden schüchtern von der Seite ansehen, wie sie Alltagsphilosophie stammeln und dann selbst darüber lachen müssen - da ist plötzlich der ganze Zauber von „Before Sunrise" wieder da. Als wäre der Filmemacher Herr über die ewige Wiederkehr des Schönen. Davor aber durchlebt Masons Mutter eine Sinnkrise. Geburt, Hochzeit, Scheidung, die Kinder und ihr Auszug, fehlt nur noch das Begräbnis: „Ich hatte gehofft, dass da mehr ist." Nein, da ist nicht mehr. Aber wenn einer wie Linklater seinen liebevollen Blick darauf wirft, dann ist es doch verdammt viel. Er hat seine Rezeptur gefunden und fördert mehr Gold, als im Goldenen Bären steckt - der ihm verwehrt geblieben ist.

Jung sein in Österreich. Auch in den vielen weiteren Schienen waren heuer auffallend viele österreichische Beiträge zu sehen. Zwei wichtige fügen sich ins große Tableau. Auch Umut Dağs „Risse im Beton", gezeigt in der Reihe Panorama Special, arbeitet sich an einem Kind ab. Schade, dass der Plot so klischeehaft geriet: Ein kleinkrimineller Halbstarker mit türkischen Wurzeln (Alechan Tagaev) träumt davon, ein Rapstar zu werden, und fällt dabei immer tiefer. Ein Ex-Knacki (Murathan Muslu), der sich nicht als sein Vater zu erkennen gibt, ringt um seine Seele. Aber, wie man ja weiß: „Du kriegst ihn nicht von der Straße, die Straße nicht aus ihm." So weit, so schlimm. Aber auf der Habenseite steht eine doch präzise, spielfilmlange Milieustudie über Wiener Migrantenkids mit zwei beeindruckenden Hauptdarstellern.
Auch dokumentarisch lassen sich junge Menschen mit der Kamera begleiten. „Und in der Mitte, da sind wir" heißt die zweite Arbeit des jungen Oberösterreichers Sebastian Brameshuber („Muezzin"). Einmal mehr gilt es, hier für drei Jugendliche aus Ebensee, an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsenwerden Entscheidungen für den Lebensweg zu treffen. Ausgangspunkt für den Film war die Neo-Nazi-Störaktion" 2009, als Minderjährige Menschen auf einer Gedenkfeier im ehemaligen KZ Ebensee mit Softguns attackierten. Die Nachbearbeitung des Vorfalls in der Schule dokumentiert Brameshuber ebenso wie Eltern, die von der Erinnerungsarbeit genug haben. Die „Mitte" im Titel scheint wie eine Leerstelle im Zentrum einer Gesellschaft, in der eine echte Idee von Zukunft vor lauter Überangebot kaum auszumachen ist. Brameshubers größtenteils stimmiges kleines Jugendporträt behandelt damit auch Zeitgeschichte im aktuellsten Sinn. Eher als Fingerübung erwies sich Georg Tillers sympathisch-versponnenes Filmporträt „DMD KIU LIDT" über die ebenso sympathisch-versponnene Band „Ja, Panik", über das Chillen und Sinnieren der Musiker in ihrer Berliner Wahlheimat.

Ironie im Museum. Und schließlich, gewichtiger im Anspruch, aber erfreulich leicht geraten: „Das große Museum" von Johannes Holzhausen. Der Dokumentarist hat zwei Jahre lang voller Neugier und Sympathie den Arbeitsalltag im Kunsthistorischen Museum in Wien beobachtet. Schön demokratisch bringt er alle Beteiligten ins Bild, von der Generaldirektorin über die Restauratoren bis zum Unkrautjäter.

Mit feiner Ironie zeigt Holzhausen, wie die schnöden Zwänge der Wirtschaftlichkeit und des Marketings mit dem würdevollen Wissen kollidieren, dass man Schätze für die Ewigkeit bewahrt. Aber es dominiert doch der liebevolle Respekt vor Menschen, die jeder auf seine Weise den in der Kunst manifestierten Werten dienen, die im Kleinen für etwas arbeiten, was größer ist als ein Menschenleben.

Historie

1951. Gründung der Berlinale auf Initiative von Oscar Martay, US-Film-Officer der Militärregierung nach dem II. Weltkrieg. Eröffnet wird mit Hitchcocks „Rebecca“.

1970. Streit um Michael Verhoevens Vietnam-Kriegs-Film „ok“. Das Wettbewerbsprogramm wird abgebrochen.

1971. „Das internationale Forum des jungen Films“, Gegenveranstaltung zum offiziellen Wettbewerb, wird ins Festival integriert.

1976. Der Filmpublizist Wolf Donner löst Alfred Bauer als Festivalleiter ab und etabliert neue Sektionen bei der Berlinale (Deutsche Reihe, Kinderfilm, Panorama).

1978. Das Festival wird vom Sommer in den Februar verlegt.

1979 Moritz de Hadeln übernimmt die Berlinale-Leitung.

2001. Dieter Kosslick folgt De Hadeln. Die Berlinale gehört zu den weltweit bedeutendsten Ereignissen der Filmbranche und ist vor allem als „Arbeitsfestival“ etabliert, weniger als Parcours für Prominente. Es gibt ca. 400 Filme für 430.000 Besucher.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2014)

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