Leitartikel

Wie Ursula von der Leyen die Gunst der Stunde ergriff

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zog am Mittwoch in Straßburg ihre Zwischenbilanz
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zog am Mittwoch in Straßburg ihre ZwischenbilanzAPA / AFP / Frederick Florin
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Die Präsidentin der Kommission hat große Krisen gemeistert und die EU nach außen gefestigt. Im Inneren der Union bleibt allerdings einiges zu tun.

Als Ursula von der Leyen im April gemeinsam mit Emmanuel Macron die Reise nach China antrat, hätte der Kontrast zwischen den beiden Spitzenpolitikern nicht größer sein können. Während der französische Staatschef mit Pomp und Trara über den roten Teppich schritt, kam die Präsidentin der Europäischen Kommission per Linienflug in Peking an und wurde am Gate von einem Juniorminister mit einem Strauß Blumen begrüßt. Die Botschaft, die Staats- und Parteichef Xi Jinping mit dieser Ungleichbehandlung aussenden wollte, war alles andere als subtil: Die Volksrepublik sehe lediglich die wichtigsten nationalen Politiker als ebenbürtige Gesprächspartner an – und die Brüsseler Behörde als bestenfalls unnütz und schlimmstenfalls lästig.

Wenn nun Valdis Dombrovskis, der für Wirtschaft und Handel zuständige Vizepräsident der EU-Kommission, kommende Woche nach China reist, dürfte der Empfang etwas anders ausfallen – was nicht zuletzt mit von der Leyens Ankündigung zusammenhängen dürfte, eine EU-Untersuchung über chinesische Staatssubventionen für die Elektrofahrzeugindustrie einzuleiten. Der Versuch des neuen „Großen Steuermanns“, sich die EU als Entität wegzuwünschen, ist an der Realität zerschellt. Spätestens seit dem Ausbruch der Coronapandemie vor dreieinhalb Jahren sind die Kommission und ihre Präsidentin keine Spielbälle der Großmächte mehr, sondern eigenständige Akteure, die im Namen der 27 Unionsmitglieder essenzielle weltpolitische Dienstleistungen erbringen.

Insofern hat sich die Kommission in den knapp vier Jahren seit Ursula von der Leyens Amtsantritt dorthin entwickelt, wo sie die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin haben wollte. Sie ist jetzt genau jene geopolitische Behörde, von der sie 2019 gesprochen hat. Als solche sitzt die EU im Klub der Weltmächte als (mehr oder weniger) vollwertiges Mitglied am Tisch – und steht nicht bloß auf der Speisekarte. Die Seuche und der russische Überfall auf die Ukraine zogen der „alten“ Union den Boden unter den Füßen weg und zwangen sie dazu, sich neu aufzustellen. Diese neue Union ist dazu befugt, Anleihen zu begeben; sie verfügt über ein Investitions- und Förderpaket in dreistelliger Milliardenhöhe; sie hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was unternommen werden müsse, um Europa CO2-neutral zu machen; und sie ist imstande, im Expresstempo die halbwegs schmerzfreie Abkoppelung von einem Rohstoff- und Energielieferanten wie Russland zu orchestrieren.

Ob sie dazu imstande ist, große Ansagen mit dem europäischen Alltag in Einklang zu bringen, ist eine andere Frage. Sollte von der Leyen nach der Europawahl 2024 die Gelegenheit dazu erhalten, ihre Arbeit in Brüssel fortzuführen, wird sie mit der Herausforderung konfrontiert sein, programmatische Würfe bei Gegenwind aus den EU-Hauptstädten real umzusetzen. Hier weist ihre Bilanz Lücken auf – und zum Vorschein kommt eine gewisse Tendenz, langfristig essenzielle Maßnahmen aufgrund tagespolitischer Notwendigkeiten zu beschneiden.

Die Aufweichung des ursprünglich für 2035 vorgesehenen Ausstiegs aus Verbrennungsmotoren verdeutlicht das Dilemma. Als Kompromisslösung angesichts der Bedürfnisse regionaler Industrien und Interessensvertretungen mag sie durchaus verständlich sein, sie ist aber zutiefst provinziell – und damit das Gegenteil von geopolitisch gedacht. Der deutschen Autobranche nützen Ausnahmen für E-Fuels herzlich wenig, weil in China und den USA der Elektrozug längst abgefahren ist. Und wie der am Mittwoch angekündigte Abwehrkampf gegen chinesische Elektroautos belegt, sind derartige Partikularinteressen auf längere Sicht sogar kontraproduktiv. Denn hätten die Europäer den Trend zur Elektromobilität (nicht zuletzt aufgrund des deutschen Lobbyings) nicht verschlafen, können sie dem Wettbewerb mit China gelassener entgegenblicken.

Von der Leyen hat Europa geschickt durch schwere Stürme navigiert. Dafür gebührt ihr Lob. Nun muss sie – oder ihr Nachfolger an der Spitze der Kommission – dafür sorgen, dass die EU den angekündigten Kurs auch halten kann.

E-Mails an: michael.laczynski@diepresse.com

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