Gesundheit. Der Pädagoge Gerald Koller hilft Menschen, den Umgang mit Rausch- und-Risiko-Situationen zu erlernen.
Wien. Das Streben nach Glück bedingt, dass ein Mensch in der Lage sein muss, allerorts und jederzeit die Begriffe Risiko und Gefahr differenzieren zu können. Risiko, laut Duden „ein bedeutsames Ereignis mit ungewissem Ausgang“, und Gefahr, eventuell lebensbedrohend, werden in der Gesellschaft gemeinhin synonym interpretiert, sagt der Mödlinger Gerald Koller. Das sei tückisch.
Koller, 56, versteht sein Fach. 25 Jahre der Präventionsarbeit auf verschiedenen Ebenen, also das Sprechen mit Jugendlichen, Extremsportlern, Freeridern, Kletterern, Drogensüchtigen oder dem Beraten diverser Landesregierungen, führten stets zu drei relevanten Säulen. Neurobiologie („Wie ticken wir außerhalb der Komfortzonen?“), die Arbeit mit dem Extremen („Basejumper Hannes Arch erlebte 1200 Meter im freien Fall – warum zog er die Reißleine?“) und die Ethnohistorie („Wir leben in sozialen Systemen, es lebe die Gruppendynamik“). Mit Pädagogikthemen wie „risk'n'fun“ versucht Koller, der aus einer Suchtfamilie („Daheim war es gefährlich“) stammt, in Zusammenarbeit mit dem Alpenverein das Verständnis Jugendlicher für nicht alltägliche Erfahrungen zu kultivieren.
Jede Entwicklung braucht Risiko, das Entdecken des Neuen, des Noch-nicht-Erlebten. In Trainingscamps versuchen Koller und das „Forum Qualitätleben“ Zugänge aufzuzeigen, die Begrifflichkeit des Seins und die Tragweite der Entscheidung zu vermitteln. „Es geht um die Balance“, sagt Koller und wenngleich sicher nicht jeder Extremsport zur Nachahmung anzuraten oder gar der generellen Breitensportwirkung dienlich ist, finden seine Worte auch im Alltag Verwendung: „Wahrnehmungskultur“ der Umwelt (Break) ist nicht nur auf Snowboarder zugeschnitten, die Neuschnee erkunden, sondern auch im Straßenverkehr (Regen, Schnee, Glätte) unerlässlich.
Der Mensch wagt Risken zumeist nie allein, eher in der Gruppe, die soziale Konstellation und deren Leader (Freunde) leiten den Einzelnen trotz möglicher „illusionärer Blasen und Kompetenzen“. Den Wagnisbereich des Daseins skizziert der angestrebte Lernprozess (Reflect); zusammen formieren sich diese drei Punkte im Rausch, „beim Sex – der ist eine Berauschung“.
Über Tabus könne man in Extremsituationen nicht mehr stolpern, dann sei es längst zu spät: Koller spricht von „ozeanischer Selbstentgrenzung“, einem außergewöhnlichen Bewusstseinszustand, in dem eine Person einen Wechsel oder eine Veränderung in Bezug auf das Bewusstsein erlebt. Es ist das bewusste Ziehen der Reißleine, obwohl Endorphine für Glücksgefühle sorgen und Gefahren, etwa den Tod, ausschließen.
„Risflecting“, der von ihm entwickelte Ansatz der Rausch- und Risikopädagogik, hilft sowohl den Alltag als auch das Nichtalltägliche zu begreifen. Egal, ob Bürgermeister, Schulleiter oder Teenager – sie hören dem ehemaligen Gymnasiallehrer zu. Dem „Ashoka-Fellow“ geht es um die Wahrnehmung, das Begreifen der Umwelt, der Gesundheit. Er sagt: Das Leben ist ein Risiko, aber keine Gefahr.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2014)