Gastkommentar

Erdoğan: Messen mit zweierlei Maß

Die Aussagen von Erdoğan zu Israel, egal ob jetzt oder schon 2014, widersprechen der Definition von Völkermord. Er sollte generell vor seiner eigenen Tür kehren.

Schon 2014 behauptete der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdoğan, in einem CNN-Interview, dass Israel ein „Terrorstaat“ sei und „Völkermord“ an den Palästinensern im Gazastreifen begehe, was über das hinausgehe, was Hitler den Juden angetan habe („Die Presse“ vom 26. 7. 2014). Nun wiederholt er diese abstruse, skandalöse Behauptung angesichts Israels Reaktion auf den – eindeutigen – Terrorangriff der Hamas.

Nicht nur widerspricht seine Einschätzung der Definition von Völkermord nach der Völkermordkonvention und dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, wonach darunter nur eine Handlung zu verstehen ist, „die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Weder in der Vergangenheit noch derzeit lassen maßgebende politische Erklärungen und militärische Verteidigungsmaßnahmen Israels eine solche Absicht erkennen. Ob Israel im Zuge seiner jetzigen militärischen Vorstöße in Gaza alle anderen internationalen Regeln, vor allem das Verbot von Kriegsverbrechen und das humanitäre Völkerrecht, eingehalten hat oder nicht, kann noch nicht abschließend beantwortet werden.

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Erdoğan sollte auch vor der eigenen Tür kehren: Nachdem am 1. Oktober dieses Jahres die PKK in Ankara ein Attentat verübt hatte, ließ er am Tag darauf türkische Kampfflugzeuge nicht nur Stellungen der PKK im Nordirak bombardieren. Zur Vergeltung haben nach Berichten der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES), kurdischer NGOs und der deutschen NGO Medico, bestätigt von etlichen internationalen Medien, türkische Streitkräfte vom 4. bis zum 10. Oktober im kurdisch besiedelten Nordosten Syriens 304 Luft- und Bodenangriffe auf 224 Orte und damit auf die dortige Zivilbevölkerung verübt, wobei Krankenhäuser, Gesundheitszentren und Schulen, Gas- und Ölanlagen, Kraftwerke, Wasserstationen und Wirtschaftslager angegriffen wurden. Zahlreiche Menschen sollen dabei getötet oder verletzt und 80 % der zivilen Infrastruktur in der Höhe von 56 Millionen Dollar beschädigt worden sein.

Weltpolitik sollte Erdoğan stärker zur Räson rufen

Diese Angriffe wurden in einem Gebiet Nordsyriens begangen, über das die Türkei am 9. Oktober 2019 in Kooperation mit der Syrischen Nationalarmee (SNA) im Rahmen der militärischen „Operation Friedensfrühling“ die Kontrolle und in der Folge die Jurisdiktion übernommen hat. Es handelt sich demzufolge offensichtlich um an einer Zivilbevölkerung verübte Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. Dies fand in Medien und Politik vergleichsweise wenig Beachtung, auch als Bundeskanzler Nehammer Erdoğan besuchte, während diese Angriffe liefen. Dabei wurde zwar über Israel, aber offenbar nicht über die türkischen Angriffe auf die kurdische Zivilbevölkerung in Syrien gesprochen.

Erdoğan sollte von der internationalen und europäischen Politik stärker zur Räson gerufen werden, vor allem als Präsident eines Nato-Staats, auch und gerade weil er ein wichtiger Mittler zwischen der arabischen Welt und Israel, im Krieg Russlands gegen die Ukraine und im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan sein kann und sollte. Ob ihm ungeachtet dessen, ähnlich wie dem syrischen Machthaber Assad für dessen in seinem Land verübte Gewalttaten, eine Verfolgung vor dem Internationalen Strafgerichtshof droht, obgleich weder die Türkei noch Syrien das Römische Statut ratifiziert haben, bleibt abzuwarten.

Hannes Tretter, a. o. Univ.-Prof. i.R. für Grund- und Menschenrechte, Universität Wien; Vorstandsvorsitzender des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte (www.humanrights.at).

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