Lesetipp 3

Eine Lustreise mit Kant, zurück ins Paradies

Schön war es im Garten Eden: Andrea Goldman und Mark Gregory im italienischen Film „Adamo ed Eva, la prima storia d’amore“ von 1983.
Schön war es im Garten Eden: Andrea Goldman und Mark Gregory im italienischen Film „Adamo ed Eva, la prima storia d’amore“ von 1983.Imago
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Unser Lesetipp zum Auftakt des Kant-Jahres: Der wenig bekannte Aufsatz „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ zeigt den Weltweisen von seiner zugänglichsten Seite.

Ach, dieser Kant! Sogar die Mittagessen, zu denen der Meisterdenker fast täglich Gäste lud, folgten einem präzisen System: Bei der Suppe tauschte man Informationen aus, beim Braten wurde räsoniert und erst beim Nachtisch gescherzt. Aber immerhin, das Amüsement fehlte nicht, und der einflussreichste Philosoph der Neuzeit wurde als geistreicher Plauderer geschätzt. Und so wollen wir in das Gedenkjahr für Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag die Menschheit am 23. April feiert, nicht mit der tonnenschweren Gedankenlast seiner Hauptwerke starten, sondern ihn auf einer „Lustreise“ zu unseren Anfängen begleiten.

Als „Karte“ für seine „Lustreise“ kann Kant nur die Bibel dienen. Dass er dem „heiligen Bericht“ nicht so recht traut, lässt er – bei aller Vorsicht vor der Zensur – immer wieder durchblicken. Seltsam, meint er etwa, dass Adam und Eva schon fix fertig stehen, gehen und sprechen konnten. Das seien doch „Geschicklichkeiten“, die sie erwerben mussten. Denn wären sie „anerschaffen“, dann wären sie auch vererbbar, was „der Erfahrung widerstreitet“ – jedes Baby braucht viel Zeit, um sie zu lernen. Kant war also klar, dass sie sich auch in der Kindheit der Spezies erst über einen langen Zeitraum entwickeln mussten.

Auch das mit dem Paradies mag er nicht so recht glauben. Er sieht in diesem „Geschöpf unserer Einbildungskraft“ einen Wunsch, unserer Mühsal zu entkommen, einen „eingebildeten Sitz der Wonne“, wo wir „in ruhiger Untätigkeit“ unser Dasein „verträumen oder vertändeln“ können. Vor allem aber deutet er den Sündenfall fast ketzerisch als Triumph der aufkeimenden Vernunft über die tierischen Instinkte – und damit als unsere wahre Geburtsstunde. Wie das?

Die Frucht war wahrscheinlich sauer

Der Instinkt legte anfangs fest, was das Mensch-Tier zu sich nahm. „Die Veranlassung, dem Naturtriebe abtrünnig zu werden“, dürfte „nur eine Kleinigkeit“ gewesen sein – vielleicht „nur eine Frucht“, die schmackhaft aussah und anderen Tieren gut bekam. Wahrscheinlich war sie dann sauer oder machte krank. Der Schaden mag unbedeutend gewesen sein, aber dem Menschen gingen „hierüber die Augen auf“. Er „entdeckte in sich ein Vermögen, sich selbst eine Lebensweise auszuwählen“. Eine Erbsünde unserer Stammeltern war das keine, bemerkt Kant trocken, denn willentliche Handlungen lassen sich nicht vererben. Doch sofort folgten „Angst und Bangigkeit“. Nun wird es existenziell, Kierkegaard und Sartre grüßen voraus: Der Mensch „stand gleichsam am Rande eines Abgrundes“. Denn ihm war eine Unendlichkeit von Gegenständen der Begierde eröffnet, „in deren Wahl er sich nicht zu finden wusste“. Wir hatten mit der Vernunft auch unsere Freiheit entdeckt. Nun gab es kein Zurück mehr. Die Instinkte wurden immer schwächer, und mit Versuch und Irrtum lernten die Menschen, sich ersatzweise ein Gerüst aus Zwecken und Mitteln zu bauen.

Und das Feigenblatt? Damit zügelten wir den augenblicklichen Geschlechtstrieb, konnten ihn aber dank unserer Einbildungskraft, die hinters Blatt blickt, „inniglicher und dauerhafter machen“. Die „bloß tierische Begierde“ wurde „allmählich zur Liebe“, aus dem „Gefühl des bloß Angenehmen“ ein „Geschmack für Schönheit“. Schließlich lernten wir die anderen zu achten, wurden zu sittlichen Wesen. Aber dass wir Künftiges erwarten, erwies sich als „Quell von Sorgen“. Da wird Kant fast zum Feministen avant la lettre: „Das Weib sah die Beschwerlichkeiten, die der mächtigere Mann ihr auferlegen werde.“ Vor allem aber sahen wir mit Furcht den Tod voraus. Und „vielleicht die einzige tröstende Aussicht“ war, mit den Kindern zu leben, die es „besser haben“ sollten oder die Beschwerden „erleichtern könnten“. Wie lebensnah!

Akkurat die Sicht auf die Sesshaftigkeit: Mit dem „glänzenden Elend der Städte“ kamen der Krieg als „größtes Übel“, die „verworfenste Sklaverei“, die Ungleichheit als „reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten“. Denn aus all dem musste „Kultur entspringen“, Kunst, Zeitvertreib und Fleiß. So müssen wir als aufgeklärte Vernunftwesen selbst handeln, unserem eng befristeten Dasein einen Sinn verleihen, indem wir nach einem Fortschritt zum Guten streben. Diesen unerschütterlichen Glauben an die Vernunft und an die Möglichkeiten des Menschen können wir heuer von Kant neu lernen.

Und zugleich erahnen, womit viele gar nicht rechnen: an welchen Stellen er beim Schreiben schelmisch gelächelt haben mag.

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