Irrtümer

Du sollst dir kein falsches Bild von Kant machen

Nein, das ist nicht Kant, sondern sein Kollege Friedrich Heinrich Jacobi.
Nein, das ist nicht Kant, sondern sein Kollege Friedrich Heinrich Jacobi.Freies Deutsches Hochstift
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Zum Auftakt des Kant-Jahres bringen zwei Magazine den Philosophen aufs Cover. Sie zeigen aber irrtümlich dessen Kritiker Jacobi – ein anregender Fauxpas.

Man sollte sich kein falsches Bild machen. Schon gar nicht von Kant, einem der großen Jubilare des neuen Jahres. Der unangefochtene Superstar der deutschsprachigen Philosophie feiert am 22. April seinen 300. Geburtstag. Und schon erheben ihn zwei Magazine, der deutsche „Cicero“ und das Grazer „Abenteuer Philosophie“, zu ihrem aktuellen Coverboy. Beide Illustrationen verwenden dasselbe Porträt – nur zeigt es gar nicht den Jubilar, sondern seinen etwas jüngeren Kollegen Friedrich Heinrich Jacobi. Diesen Autor, der heute nur noch in Fachkreisen präsent ist, nannte Fichte den „tiefsten Denker unserer Zeit“ und stellte ihn „weit über Kant“. Einen Namen machte er sich als einer der ersten und einflussreichsten Kritiker von Kants Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“ – was die Verwechslung besonders anregend macht. Wie aber konnte sie passieren?

Dass Kant bis heute einer der meistdiskutierten Philosophen ist, dass die Sekundärliteratur zu ihm längst viele Kilometer umfasst, verdankt er allein seiner letzten Schaffensphase. So zeigen auch die meisten Porträts einen alten, gebeugten, strengen Mann. Als Ausnahme beliebt ist ein Abbild des 44-Jährigen von Johann Gottlieb Becker. Aber dieses Gemälde ähnelt einem Jacobi-Porträt, das in derselben französischen Tradition gemalt ist – in halber Figur, in der Mode der Zeit, mit gepuderter Perücke samt Lockenrollen.

Die Wikipedia ist schuld

Dieses Porträt stellte jemand Anfang 2017 irrtümlich zum Kant-Eintrag auf der englischsprachigen Wikipedia, als Hauptbild. Es dauerte über vier Monate, bis die Editoren es endgültig entfernten. Das genügte, damit es sich im Netz und auf Universitäten großflächig verbreiten konnte. Es zierte Blogs, Folien zu Kant-Vorlesungen und Plakate zu Kant-Veranstaltungen. Und wer heute auf Google nach Kant-Bildern sucht, bekommt es noch immer vorgeschlagen.

Es wirkt auch attraktiver als das ähnliche Originalbildnis. Jacobi gibt sich modischer, eleganter gekleidet als der bescheidene Professor, der nie aus Königsberg hinauskam. Er war auch praktischer veranlagt, ein Kaufmann und Wirtschaftsreformer. So zeigt sich auch in seiner Erkenntnistheorie ein robuster Realismus: „Ich erfahre, dass ich bin, und dass etwas außer mir ist, in demselben unteilbaren Augenblick.“

Kants System aber ist von Dualismen geprägt: Sinnlichkeit versus Verstand, empirische versus reine Erkenntnis, Erscheinungen versus Dinge an sich. Die Materie liefert die Sinnesdaten, sie „affizieren“ den Geist, der ihnen dann Form gibt, im Gerüst von Raum und Zeit und mit den Kategorien des Verstandes. Wohl die wichtigste dieser Kategorien ist die Kausalität, mit der wir zeitlich aufeinanderfolgende Ereignisse als Ursache und Wirkung begreifen.

Hier setzt Jacobis Kritik an: Wenn die Kategorien sich nur auf Erscheinungen anwenden lassen, nicht auf die Dinge, wie sie unbekannterweise an sich sind, ohne unser Erkenntnisvermögen – wie kann man dann behaupten, dass uns Sinnesdaten von außen „affizieren“, also kausal auf uns einwirken? So kommt Jacobi zu seinem viel zitierten Schluss: „Ich muss gestehen, dass ich die Kritik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen musste, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, dass ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte.“

Anstoß für den Idealismus

Er empfiehlt den Kantianern: Sie sollen keine halben Sachen machen wie ihr Meister. Damit der Gedankengang konsistent wird, sollen sie alle Erkenntnis aus dem Geist kommen lassen – und somit „den kräftigsten Idealismus“ behaupten, „der je gelehrt worden ist“. Dieser Rat war ironisch gemeint, aber Fichte nahm ihn ernst. Darauf haben später Schelling und Hegel aufgebaut. So lieferte Jacobis Kant-Kritik den entscheidenden Anstoß für den deutschen Idealismus. Aber hatte er recht? Ist das mit der Kausalität wirklich ein Problem? Kantianer kontern: Wir können uns das mit den affizierenden Sinnesdaten eben nicht anders vorstellen, wie denn auch. Und Kant behauptete ja nicht, dass unter Dingen an sich ein akausales Chaos herrscht. Wir wissen nur, dass Alltagserfahrung und Wissenschaft ohne diese Verstandesform nicht möglich wären.

Basis für die Ethik

Alles nur weltfremde Spekulation? Mitnichten: Jeder von uns ist für Kant zugleich sinnlich erfahrbare Erscheinung und Ding an Sich. Das rettet bei ihm die Willensfreiheit: Von außen betrachtet, sind unsere Handlungen determiniert, fest eingebunden in eine kausal geschlossene Welt. Von innen heraus aber erleben wir uns als frei, wissen, dass wir neue Kausalitätsreihen beginnen können. Erst dadurch wird es sinnvoll, nach Gut und Böse zu fragen, einer Moral zu folgen. Und das bedeutet für sehr viele Menschen: dem Leben einen Sinn zu geben.

Über all das wird bis heute eifrig debattiert, und im Kant-Jahr sicher noch mehr. Da erscheint es unfair, dass Jacobi als Auslöser in Vergessenheit geraten ist. Und wie eine ausgleichende Gerechtigkeit, dass er zumindest ins Bild rückt. Wenn auch irrtümlich.

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