European Voices

Ivan Krastev: „Europa ist nun ein Friedens- und ein Kriegsprojekt“

Der Politologe Ivan Krastev (v.r.n.l), der slowenische Ex-Präsident Danilo Türk, Österreichs Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel und der langjährige Leiter der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, bei der Präsentation der „European Voices“ in München. In der Mitte Martyna Czarnowska, Ko-Chefredakteurin des Magazins.
Der Politologe Ivan Krastev (v.r.n.l), der slowenische Ex-Präsident Danilo Türk, Österreichs Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel und der langjährige Leiter der Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, bei der Präsentation der „European Voices“ in München. In der Mitte Martyna Czarnowska, Ko-Chefredakteurin des Magazins. Ultsch
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Bei der Präsentation des neuen Magazins „European Voices“ auf der Münchner Sicherheitskonferenz analysierte der bulgarische Politologe Ivan Krastev, wie der Ukraine-Krieg vier langjährige europäische Gewissheiten zertrümmert hat.

Das Thema zog sich wie ein roter Faden durch die Münchner Sicherheitskonferenz: Der Ukraine geht im Krieg gegen die russischen Invasoren die Munition aus, im US-Kongress blockieren Republikaner das 95-Milliarden-Dollar-Militärpaket für Kiew und Europa ist nicht in der Lage, die Rüstungsindustrie schnell genug hochzufahren. Bei der Präsentation des neuen Debattenmagazins, „European Voices“ fasste der bulgarische Star-Politologe Ivan Krastev das Dilemma in München plastisch zusammen: „Nordkorea produziert mehr Granaten als ganz Europa.“

„Die Presse“ gibt das neue englischsprachige Magazin gemeinsam mit der „Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen“ (ÖGAVN) vier Mal pro Jahr heraus. Zur Vorstellung der ersten Ausgabe bei der Sicherheitskonferenz kamen Journalisten und Experten von Tschechien, Armenien und der Ukraine bis Finnland und sogar Hongkong. Am Podium saßen neben Krastev, ÖGAVN-Präsident Wolfgang Schüssel und dem ehemaligen slowenischen Staatspräsidenten Danilo Türk auch der langjährige Leiter Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Sie alle gehören dem hochkarätigen Beirat der Publikation an. Die Moderation übernahm Martyna Czarnowska, die gemeinsam mit Thomas Seifert Chefredakteurin der „European Voices“ ist.

European Voices

Lesen Sie in der 120 Seiten starken ersten Ausgabe der englischsprachigen Zeitschrift Beiträge von und mit Ivan Krastev, Viktor Orbán, Kaja Kallas, Nathalie Tocci, Werner Hoyer und Ilija Trojanow und viele weitere.

Das Magazin kann hier bestellt werden. 

Vivian Schulz

Die Macht verschiebt sich in den Osten

Ischinger nahm in seiner Wortmeldung den Covertitel der ersten Ausgabe auf. Das Machtgleichgewicht verschiebe sich in den Osten, sagte er. Die Ukraine werde nach dem Krieg die stärkste und modernste Armee in ganz Europa haben. Auch die Bedeutung von mittelosteuropäischen EU-Mitgliedstaaten wie Polen nehme kontinuierlich zu. Und das Schwarze Meer rücke immer stärker in den geopolitischen Fokus. Umso wichtiger sei es, Stimmen aus der Region in einem Magazin wie „European Voices“ Gehör zu verschaffen.

Wachstumsmotor Europas

Ähnlich argumentierte Wolfgang Schüssel. Die Region sei jetzt schon Europas wirtschaftlicher Wachstumsmotor. Die nächsten Erweiterungsrunden würden zudem den Charakter der EU fundamental verändern, prophezeite Österreichs Ex-Kanzler. Eines steht für ihn jetzt schon fest: Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist bei einer dermaßen großen Zahl an Mitgliedern schon jetzt passé.

Osteuropa ist geopolitisches Kerngebiet

Sloweniens Ex-Präsident Danilo Türk erinnerte daran, dass der britische Geograph und Begründer der Geopolitologie Halford John Mackinder schon vor 100 Jahren in seiner Kernland-Theorie konstatiert habe, dass Osteuropa eine entscheidende Rolle dabei spiele, wie die Macht in der Welt verteilt sei. Bei der Sicherheitskonferenz in München seien nur wenige Antworten gegeben worden und viele Fragen offen geblieben: etwa wie ein Friede in der Ukraine aussehen könne oder wie die EU eine neue strategische Ebene erreichen könne. Ein Magazin wie „European Voices“ könne dafür konstruktive Vorschläge ausarbeiten.

Europas vier zerstörte Gewissheiten

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev analysierte, dass sich Europa von vier Gewissheiten verabschieden müsse, die bei der letzten Erweiterungsrunde 2004 noch gegolten hätten. Erstens sei wirtschaftliche Interdependenz keine Garantie mehr für Frieden und Stabilität. Was Länder früher verbunden habe, wie Energielieferungen, werde nun als Waffe eingesetzt. Die zweite Lektion nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: Hard Power, militärische Kapazität, zähle.

Drittens sei das post-heroische Zeitalter vorbei. Die Ukraine brauche Helden, die bereit seien, für ihr Land zu streben, denn sonst höre das Land auf zu existieren. Und viertens könne Europa den US-Sicherheitsschirm nicht mehr als gegeben annehmen. Donald Trump habe diesbezüglich tiefe Zweifel gesät.

Europa ist im Krieg und weiß es nicht

Europa sei nun nicht mehr nur ein Friedens-, sondern auch ein Kriegsprojekt, meint Krastev. Das verdeutliche auch der Vorstoß von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in ihrer nächsten Amtszeit einen Kommissarposten für Verteidigung zu installieren.

Im Gegensatz zu den meisten Europäern und Amerikanern fasse der globale Süden ebenso wie Russland, den Ukraine-Krieg als Stellvertreterkrieg gegen den Westen auf. Am schlimmsten, so Krastev, sei es, sich in einer Kriegssituation zu befinden und es nicht zu realisieren.

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