Belagerung Leningrads

Was hinter Moskaus Genozid-Vorwurf an Berlin steckt

Russlands Präsident Wladimir Putin und der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko legen im Jänner 2024 Blumen an einem neuen Denkmal zur Erinnerung an im Zweiten Weltkrieg getötete Zivilisten ab.
Russlands Präsident Wladimir Putin und der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko legen im Jänner 2024 Blumen an einem neuen Denkmal zur Erinnerung an im Zweiten Weltkrieg getötete Zivilisten ab.Reuters / Sputnik
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Das russische Außenamt drängt Deutschland, die Einkesselung durch die Nazis als Völkermord anzuerkennen. Dabei geht es um politische Motive.

Im Jänner legte der deutsche Botschafter in Russland, Alexander Graf Lambsdorff, einen Kranz in St. Petersburg nieder. Damit gedachte der Diplomat des Endes der Blockade des damaligen Leningrad durch die Nationalsozialisten vor 80 Jahren. Die Wehrmacht hatte die russische Metropole 872 Tage lang belagert. Mehr als eine Million Menschen kam ums Leben. Deutschland spricht heute von einem „furchtbaren Kriegsverbrechen“ der Nazis. Berlin bekenne sich „ausdrücklich zu seiner historischen Verantwortung für die in Leningrad durch die deutsche Wehrmacht begangenen Verbrechen“, so das Auswärtige Amt.

Moskau ist das nicht genug. Im Kontext der angespannten Beziehungen zwischen Russland und Europa erhöht das Moskauer Außenministerium seit einiger Zeit den Druck auf Berlin. Jüngst forderte man in einer diplomatischen Note die Anerkennung der Leningrad-Blockade als „Genozid“. Moskau beschuldigte Berlin in dem Schriftstück, einen „widersprüchlichen Umgang mit der Vergangenheit“ zu pflegen: Deutsche Verbrechen aus der Kolonialzeit seien als Völkermord anerkannt, die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg aber nicht.

Mehr als nur Kriegsverbrechen

Rechtlich geht der Vorwurf eines Völkermords weiter als der von Kriegsverbrechen. Die UN-Völkermordkonvention von 1948 sieht vor, dass zuständige Gerichte Verurteilungen wegen Völkermords erlassen. Frühere Fälle müssen Politik, Gesellschaft und Geschichtsschreibung klären.

Moskau stört sich daran, dass Deutschland nur jüdischen Opfern der Blockade individuell Entschädigung zahle. Schon im Vorjahr hat die Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa, bekannt für provokante Statements, Berlin der „Segregation nach ethnischen Kriterien“ beschuldigt und historische Parallelen zur Nazi-Zeit gezogen.

Berlin begründet die unterschiedliche Behandlung damit, dass die sowjetischen Juden wegen der nationalsozialistischen Rassenpolitik einem besonderen Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. Die Entschädigung anderer Opfer sei mit den Kriegsreparationen nach 1945 abgegolten. Als humanitäre Geste fördert die Bundesregierung seit 2019 die Modernisierung eines Krankenhauses für überlebende Blockade-Opfer.

„Zynisches Propagandamanöver“

Und der Genozid-Vorwurf? Der ist wohl im Lichte aktueller Entwicklungen zu sehen. Der Osteuropahistoriker Robert Kindler von der FU Berlin sieht auf X den Genozid-Vorwurf als „durchsichtiges und zynisches Propagandamanöver“. Er führt an, dass die NS-Vernichtungspolitik gegen die gesamte sowjetische Bevölkerung gerichtet war. Aktuell steht Moskau wegen seiner Ukraine-Invasion in der Kritik. Kiew beschuldigt das Land, einen Genozid zu verüben. Die Vorwürfe werden international untersucht. Zudem instrumentalisiert Moskau die historische Unbeugsamkeit Leningrads auch für seine aktuelle Politikagenda. (ag./som)

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