Brüssel-Briefing

Wir desinformieren uns selbst – ganz ohne Zutun des Kremls

Die Dame links im Bild wird nicht Nato-Chef, der Herr am rechten Rand hingegen ziemlich sicher schon.
Die Dame links im Bild wird nicht Nato-Chef, der Herr am rechten Rand hingegen ziemlich sicher schon.Reuters / Johanna Geron
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Ein lahmer estnischer Nato-Aprilscherz und die erstaunliche Reaktion Ursula von der Leyens auf die Tötung humanitärer Helfer in Gaza entblößen den fadenscheinigen Umgang europäischer Eliten mit der Wahrheit.

Am 1. April verblüffte das Onlineportal „Estonian World“ nicht nur Estland, sondern die an solchen Fragen interessierte Welt mit dieser Nachricht: „Kaja Kallas, die gegenwärtige Premierministerin von Estland, hat die Unterstützung der Vereinigten Staaten, Frankreichs, Deutschlands und des Vereinigten Königreichs erhalten, um nächste Generalsekretärin der Nato zu werden, womit sie die erste Frau und die erste Person aus Ost- und Mitteleuropa ist, welche die Allianz führen wird.“

Die Begeisterung über diese Meldung kannte bei zahlreichen politischen Chefdenkern und Thinktankern kaum Grenzen. „Das wäre so eine gute Nachricht“, jubelte Nathalie Tocci, die Leiterin der führenden außenpolitischen Denkschmiede Italiens, des Istituto Affari Internazionali (sie unterrichtet auch in Florenz am Europäischen Universitätsinstitut für transnationale Governance). Tocci war zuvor Sonderberaterin von Josep Borrell, dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, und von dessen Vorgängerin Federica Mogherini.

Zu schön, um wahr zu sein

Nicht minder begeistert war Mujtaba Rahman, der Geschäftsführer der politische bestens verdrahteten Consultingagentur Eurasia Group, ein früherer Beamter des britischen Finanzministeriums und der Europäischen Kommission. „Große und gute Nachricht, falls wahr“, twitterte er.

Auch in den ehrwürdigen Hallen der Universität Oxford schlug die Meldung von „Estonian World“ auf. Timothy Garton Ash, einer der wichtigsten Historiker der Zeitgeschichte Europas, hatte sofort eine Kurzanalyse parat: „Ein starkes Zeichen an Putin“, teilte er der Welt auf Twitter mit.

Und so weiter, und so fort. Ich kann die Thinktanker, Politiker und Forscher kaum zählen, die auf diesen Aprilscherz hereingefallen sind. Denn natürlich war das ein solcher. Niemand, der sich auch nur flüchtig mit der Neubesetzung der Nato-Spitze befasst, würde ernsthaft annehmen, dass eine derartige 180-Grad-Wende der wichtigsten Nato-Staaten hin zu der als zu antirussisch befundenen Kallas an einem Osterwochenende über die Bühne geht – und dass ein Onlinemedium, das mehrheitlich nur bestehende Berichte und Artikel kopiert und neu verpackt, diese weltbewegende Nachricht als erstes verkünden würde.

Und sehr oft sind dieselben Thinky-Tankies und Alleswisser auf dem Schachbrett der Weltpolitik dieselben, die uns stets davor warnen, wie sehr das Gift der russischen, chinesischen und sonstigen Desinformation unseren klaren Blick auf die Welt vernebelt. Sie halten hochtrabende Referate über Gegenstrategien und Medienpolitik, nicht selten springt dabei ein Konsulentenhonorar heraus, man muss ja schließlich von etwas leben.

Wie von der Leyen sich an der Wahrheit vorbeischlängelt

Was sagt uns das über den Zustand der öffentlichen Debatte im Europa des Jahres 2024, zwei Monate vor der Europawahl? Nichts Gutes, fürchte ich. Ich möchte die russischen Versuche, die Wahrheitsfindung und Diskussionskultur in der EU zu beschädigen, nicht kleinreden. Aber wenn selbst die Leute, die am besten wissen müssten, dass manche Nachrichten zu gut sind, um wahr zu sein, ihren Confirmation Bias nicht unterdrücken können: wo kommen wir dann hin?

Unwahrheiten sind schlecht. Aber noch schlimmer sind manchmal halbe Wahrheiten, jene Aussagen also, die entscheidende Umstände unterschlagen, was sie wertlos macht – oder im schlimmsten Fall infam. In dieser Hinsicht ist die Reaktion Ursula von der Leyens auf die Tötung von sieben humanitären Helfern der Organisation World Central Kitchen durch die israelische Luftwaffe am Dienstag besorgniserregend. „Ich erbiete den World-Central-Kitchen-Helfern, die ihr Leben in Gaza verloren haben, meine Ehrerbietung. World Central Kitchen ist ein Schlüsselpartner darin, das Leid der Menschen in Gaza zu lindern, einschließlich dadurch, Lebensmittel durch den Seekorridor zu bringen. Mein tiefstes Beileid ihren Familien und Freunden“, ließ die Präsidentin der Europäischen Kommission von ihrem Medienteam twittern.

Wer das liest, kann nicht umhin, sich zu fragen: wie haben diese sieben Helfer ihr Leben verloren? Hatten sie einen Autounfall? Verschlang sie ein Tsunami? Verspeisten sie Fliegenpilze? Kein Wunder, dass dieser Tweet die Höchststrafe vor der Richterbank der Faktenprüfer aufgebrummt erhielt: eine jener „Community Notes“, in der die Nutzer von X Kontext zu falschen oder irreführenden Tweets hinzufügen können. „Die humanitären Mitarbeiter der World Central Kitchen wurden von einem Luftschlag der israelischen Armee getötet, nachdem sie ihre Bewegungen mit der Armee koordiniert hatten. Das Framing, die ihr Leben verloren haben‘ zu wählen, ist eine inakkurate Beschreibung eines möglichen Kriegsverbrechens.“

So also schlängelt sich die Präsidentin der Kommission an der unangenehmen Wahrheit vorbei: zum Schaden der Glaubwürdigkeit ihrer Institution, zum Schaden des Rufes der EU, und zum Schaden des wahrhaften Umgangs mit dem, was ist.

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