Glosse

Leitkultur für Tschetschenien: Wer zu schnell singt, wird bestraft!

Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow gab schon 2007 den Takt seiner „Leitkultur“ vor.
Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow gab schon 2007 den Takt seiner „Leitkultur“ vor.(AP Photo / NewsTeam, Dmitry Nikiforov)
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In Tschetschenien muss sich Musik bald einem strengen Temporegime unterwerfen – um „der Zukunft unserer Kinder“ das „kulturelle Erbe“ des „Volkes“ nahezubringen, wie es heißt.

Leitkultur, was ist das eigentlich? Ein handfestes Beispiel lieferte jüngst Tschetschenien. Anfang April gab die Obrigkeit der autoritär regierten russischen Teilrepublik eine neue Anordnung durch: Künftig muss sich das Tempo jeder öffentlichen musikalischen Darbietung einem strengen Regime unterwerfen. Mindestens 80 und höchstens 116 Schläge pro Minute sind erlaubt, unabhängig von Genre und Stil. Bis zum 1. Juni müssen Werke, die aus diesem Rahmen fallen, umgeschrieben werden, sonst droht ein Aufführungsverbot. Ein Gros der zeitgenössischen – Entschuldigung, „westlichen“ – Tanzmusik steht damit unter Kuratel.

Warum? Weil es wichtig sei, „den Menschen und der Zukunft unserer Kinder das kulturelle Erbe des tschetschenischen Volkes“ nahezubringen, erklärt Kulturminister Musa Dadayew. Es gehe um „Bräuche“ und „Traditionen“, um „Merkmale des tschetschenischen Charakters“. Das umfasse „die gesamte Bandbreite moralischer, sittlicher und ethischer Standards im Leben der Tschetschenen“.

Und wie kommt man darauf, dass ein präzises Geschwindigkeitsintervall zwischen Moderato und Allegro diesen „Standards“ entspricht? Ganz einfach: Im Auftrag von Präsident Ramsan Kadyrow werden „umfangreiche Arbeiten zur Frage der Übereinstimmung tschetschenischer Musik-, Gesangs- und Choreografiewerke mit der tschetschenischen Mentalität und dem tschetschenischen Musikrhythmus“ durchgeführt, lässt ein Mitarbeiter des Ministeriums wissen. Na dann!

Klar: Zwischen der vagen Wahlkampfforderung nach einer „Leitkultur“, die „bis 2030“ sicherstellen soll, dass „Symbole und Verhaltensweisen, die unseren Grundwerten entgegenstehen, rechtlich differenziert behandelt werden können“ – wie es in Karl Nehammers „Österreichplan“ heißt – und dieser realsatirisch-despotischen Maßnahme zur Einschränkung von Kunstfreiheit liegen Welten. Allerdings nennt auch die ÖVP für ihren Vorschlag einer gesetzlichen Fixierung der heimischen „Fest- und Feiertagskultur“ folgenden Grund: „damit unsere Bräuche und Traditionen auch in Zukunft begangen werden können“. Das sollte „uns“ zu denken geben, zumindest ein bisschen. Damit aus der „Leitkultur“ keine Leidkultur wird.

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