Brüssel-Briefing

In Brüssel herrscht wieder Draghi-Fieber

Mario Draghi wird seit Monaten immer wieder als möglicher nächster Präsident der Europäischen Kommission gehandelt.
Mario Draghi wird seit Monaten immer wieder als möglicher nächster Präsident der Europäischen Kommission gehandelt.Reuters / Guglielmo Mangiapane
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Der frühere EZB-Präsident und Regierungschef Italiens ist der Wunschkandidat all jener, die Ursula von der Leyen misstrauen und einen begnadeten Technokraten an der Spitze der Kommission wollen.

Einer der klügsten Politiker, die ich berufsmäßig beobachten darf, hat am Dienstag in La Hulpe nahe Brüssel eine bemerkenswerte Rede gehalten. Mario Draghi, der frühere Präsident der Europäischen Zentralbank und zuletzt Ministerpräsident Italiens, mahnte vor den versammelten Sozialpartnern und Sozialministern Europas einen „radikalen Wandel“ der Wirtschafts-, Fiskal- und Industriepolitik ein.

Der Zugang, den die EU nach der Eurokrise vor einem Jahrzehnt gewählt habe, bestätige die Kritik des Nobelpreisträgers Paul Krugman, wonach es eine „gefährliche Obsession“ sei, unter Wettbewerbsfähigkeit nur das Abgraben von nullsummenspielartige Marktanteilen zu verstehen. „Wir verfolgten eine bewusste Strategie, Lohnkosten im Vergleich zueinander zu senken zu versuchen – und, verbunden mit einer prozyklischen Fiskalpolitik, war der Effekt unterm Strich bloß, das unsere eigene Binnennachfrage geschwächt und unsere soziales Modell untergraben wurde.“

Der falsche Fokus

Allerdings, beeilte sich Draghi sogleich, wolle er nicht behaupten, dass Wettbewerbsfähigkeit „ein fehlerhaftes Konzept ist. Sondern wir hatten in Europa den falschen Fokus. Wir haben uns nach innen gewendet, unsere Konkurrenten in uns selbst gesehen, selbst in Sektoren wie Verteidigung und Energie, wo wir grundlegende gemeinsame Interessen haben. Gleichzeitig haben wir nicht genug nach außen geschaut: letztlich widmeten wir angesichts unserer positiven Handelsbilanz unserer auswärtigen Wettbewerbsfähigkeit nicht genug Aufmerksamkeit als ernste Politikfrage.“

Draghis Rede ist, anders als der überbordende und kaum lesbare Binnenmarktbericht seines Landsmanns Enrico Letta, eine politische Handelsanweisung mit Zug zum Tor. Der Bericht zu Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, an dem er seit Monaten für die Europäische Kommission arbeitet, werde auf drei Handlungssträngen basieren, sagte er. Erstens auf der Frage, wie Europa seinen Unternehmen den Aufbau jener Größe ermöglicht, der im globalen Wettstreit erforderlich ist. Die zweite Frage ziele darauf ab, wie die EU öffentliche Güter bereitstellt, an denen ein gemeinsames Interesse besteht. Draghi nannte allen voran grenzüberschreitende Energienetze und Hochleistungscomputer. Die dritte Frage drehe sich darum, wie die nötigen Rohstoffe und sonstigen Inputs (einschließlich qualifizierter Arbeitnehmer) gesichert werden können.

Tolle Rede, kluge Analyse: wäre so einer nicht der richtige Mann für die Spitze der Europäischen Kommission? Das fragen sich seit Monaten nicht nur meine italienischen Kollegen. Immer wieder hört man in Brüssel von unerwarteter Seite den Namen Draghis als eventuellen Kandidaten.

Von der Leyen schwächelt

Es ist natürlich noch viel zu früh für solche Namensspielchen. Erst nach der Europawahl am 9. Juni wird sich herauskristallisieren, wer den Rückhalt der Staats- und Regierungschefs sowie des Europaparlaments hat, um die Kommission zu führen. Doch dieser Tage nimmt die Draghi-Manie in Brüssel wieder zu. Das liegt an den Fehltritten Ursula von der Leyens, der Amtsinhaberin und Kandidatin der Europäischen Volkspartei um ihre eigene Nachfolge. Immer lauter werden die Unkenrufe, wonach von der Leyen weder die nötige Mehrheit im Parlament, noch die Unterstützung im Europäischen Rat sicher habe.

Ist da etwas dran? Vorsicht ist geboten im Umgang mit diesen Meldungen, wonach von der Leyens Kandidatur wackle. Eine glückliche Figur macht sie derzeit nicht. Aber zugleich könnten all diese Medienberichte auch ein geschickt von ihren Unterstützern lancierter Versuch sein, die vermeintliche Alternativlosigkeit zu ihrer Kandidatur zu betonen. Nach dem Motto: oh Gott, wenn sie es nicht wird, wer dann?

Draghi wäre zweifellos einer der fachlich am besten qualifizierten Anwärter für den Chefsessel im Berlaymont-Hauptquartier der Kommission. Er wäre aber auch Symptom und Bestätigung der demokratischen Malaise des europäischen Projekts. Von der Leyen bemüht sich wenigstens darum, eine (wenn auch ziemlich sterile) Art von Wahlkampf zu führen. Draghi hingegen musste sich schon als Ministerpräsident Italiens den Wählern nicht stellen. Er wurde ja als technokratischer Retter installiert.

Ermächtigte Eliten, entfremdete Wähler

„Der Preis der Draghipolitik ist dies: es ist eine Konsolidierung ohne Demokratie. Ermächtigte Eliten mit entfremdeten Wählern“, resümierte der Autor Ben Judah 2021 in diesem exzellenten Porträt. Politik, wie Draghi sie betreibt, nämlich hinter den Kulissen, stets mit dem latent bedrohlichen Argumentarium der ökonomischen Unausweichlichkeit hantierend, mache „die einzige andere Möglichkeit, ein besseres Europa zu bekommen, eine transnationale,demokratische Bewegung für eine fairere Eurozone, noch unwahrscheinlicher“, kritisierte Judah. Denn „Draghipolitik“ schwächt politische Parteien und die Bedeutung von Wahlen. „Sie mag einen Pfad für eine technokratische Lösung ebnen, aber sie verschärft das politische Problem“, lautet seine Schlussfolgerung. Dass Draghis Wettbewerbsbericht im Auftrag der Kommission erst nach der Europawahl veröffentlicht wird, fügt sich insofern geschlossen ins Landschaftsbild.

Jedenfalls ist Draghi Anfang der 1990er-Jahre als Generaldirektor des italienischen Finanzministeriums durch die beste Schule für Europolitik gegangen, hält Judah fest: „es war bereits ein Spiel für schwache Politiker und mächtige Technokraten.“ Und das ist Brüssel im Jahr 2024 zweifellos auch.

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