In russischen Medien wird der ukrainischen Armee die Schuld am Flugzeugabsturz des Fluges MH17 gegeben. Auch vor Verschwörungstheorien schreckt man nicht zurück.
Wien. Haben Sie das schon gehört? Der Absturz der Boeing 777 am vergangenen Donnerstag über der Ostukraine war eine „großangelegte internationale Provokation“ von US-Geheimdienstlern, mit dem Ziel, die EU in einen Krieg mit Russland zu verwickeln. Denn auf anderem Wege sei es den USA bisher nicht gelungen, die Lage zwischen Europa und Russland vollends eskalieren zu lassen – also habe man sich an den Fall des koreanischen Flugzeuges erinnert, das 1983 den sowjetischen Luftraum verletzt hatte und abgeschossen wurde.
Diese Theorie ist eine von mehreren Varianten, die das prorussische Webportal „Russischer Frühling“ seinen Lesern zur Aufklärung des MH17-Unglücks anbietet. Weiters im Angebot: Die Ukraine wolle durch den Abschuss, den sie selbst zu verantworten habe, von ihren militärischen Misserfolgen ablenken. Bereits einige Tage alt ist die ebenfalls in russischen Medien verbreitete Version, dass das Flugzeug irrtümlich für die Maschine des russischen Präsidenten Wladimir Putin gehalten und deshalb bombardiert wurde – das Malaysia-Logo gleiche der russischen Tricolore.
Warum, fragen auch andere Newsportale, hat die Ukraine noch nicht Kontakt zu jenem ominösen Fluglotsen namens Carlos in Kiew aufgenommen, der auf Twitter von ukrainischen Kampfjets neben dem Airliner berichtete. Sergej Newerow, hoher Funktionär der Präsidentenpartei Einiges Russland, hatte gestern im staatlichen TV-Sender „Erster Kanal“ die Antwort parat: Weil das Flugbusiness in der Ukraine vom proukrainischen Oligarchen Igor Kolomojskij kontrolliert werde.
Russische Medienkonsumenten bekommen eine gänzlich andere Version der Ereignisse erzählt als sie in westlichen Berichten zu finden sind: Während im Westen Medien vor allem die Tragödie der zivilen Opfer beleuchten und die Spur der prorussischen Separatisten aufgenommen haben, verfolgen russische Medien fast ausschließlich die Version, wonach die ukrainische Armee für den Absturz der Maschine verantwortlich sei. Auch die Empathie mit den unschuldigen Opfern des Unglücks fehlt – im krassen Gegensatz zur sonstigen (teils manipulativ tränentriefenden) Berichterstattung über die kriegsgeplagte lokale Bevölkerung in der Ostukraine.
Schwierige Rekonstruktion
Befeuert werden die gegensätzlichen Versionen von der Tatsache, dass die Tat in dem Konfliktgebiet tatsächlich schwierig zu rekonstruieren ist, die Tatwaffe vermutlich weggeschafft wurde und der oder die Täter wohl nie gefunden werden können. Dieses Klima ist der ideale Nährboden für kreative Verschwörungen aller Art.
Dazu kommt das gegenseitige Misstrauen zwischen Ost und West, das sich mit dem Konflikt verstärkt hat. Beweismitteln wird schnell unterstellt, politisch gefärbt zu sein. Moskau erzürnt, dass man zu den vom Verteidigungsministerium vorgelegten russischen Radarbildern, wonach ein (angeblich ukrainisches) Kampfflugzeug in der Nähe der Boeing aufgestiegen sei, aus den USA keine Reaktion bekommen habe. Umgekehrt wird die Möglichkeit, dass die Separatisten verantwortlich sind, als westliche Unterstellung gegen „aufrechte Kämpfer“ betrachtet. Bisherigen Erkenntnissen zufolge sei die Malaysia-Airlines-Maschine von den Separatisten mit einer Boden-Luft-Rakete vom Typ SA-11 getroffen worden, sagten US-Geheimdienstler gestern. Die Separatisten hätten vermutlich nicht beabsichtigt, die in 10.000 Meter Höhe fliegende Zivilmaschine abzuschießen. Moskau habe zwar die Bedingungen für den Vorfall geschaffen, eine direkte Beteiligung Russlands könne aber nicht nachgewiesen werden.
Beweise blieben auch die Amerikaner schuldig. Dies wurde in russischen Medien süffisant kommentiert: So ließ etwa der „Erste Kanal“ einen Militärexperten auftreten, der offen davon sprach, dass Washington „aus politischen Gründen“ nicht zugeben könne, dass klar die ukrainische Armee für den Abschuss verantwortlich sei. Das amerikanische Projekt der „Umfärbung“ der politischen Ordnung in der Ukraine sei sonst in Gefahr. So gesehen liegt die Wahrheit des „Ersten Kanals“ nicht so weit von der des Separatisten-Portals entfernt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2014)