Öffentlicher Raum: „Guerillabewegungen können ein Funke sein“

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Öffentliche Plätze brauchten eine „leichte Form der Regulierung“, sagt Stadtforscher Ash Amin. Er kritisiert die Privatisierung des öffentlichen Raums. Bürgerbewegungen könnten ihn aber zurückerobern.

Die Presse: Wem gehört der öffentliche Raum?

Ash Amin: Was einen richtigen öffentlichen Raum ausmacht, ist, dass sich Menschen (und gewissermaßen auch Tiere) dort frei bewegen können. Es ist ein Ort, der entweder der öffentlichen Hand gehört oder zu dem die Öffentlichkeit freien Zugang hat. Was wir in vielen Teilen der Welt sehen, ist eine groteske Privatisierung des öffentlichen Raums. Die Plätze werden verkauft, weil diese Grundstücke oft sehr beliebt sind, oder sie werden von kommerziellen Entwicklungen eingenommen. Es ist sehr einfach für eine Stadt, arme Menschen oder Migranten aus dem öffentlichen Raum auszuschließen.

Das Wiener Museumsquartier sollte ja ein idealer öffentlicher Raum sein. Nun wird das Areal von einer privaten Firma betrieben, und es gibt eine Hausordnung, nach der zum Beispiel Hunde, Musikinstrumente oder Fahrräder nicht erlaubt sind.

Das ist klassisch. Das ist genau, was ich meinte. Der Trend geht heute hin zu einer Privatisierung des öffentlichen Raums, gerade bei hochwertigen Immobilien im Stadtzentrum. Es vernichtet den eigentlichen, zeitgemäßen Wert des öffentlichen Raums: nämlich eines Orts, zu dem alle freien und rechtmäßigen Zugang haben. Was Sie gerade beschrieben haben, ist nicht öffentlicher Raum. Das ist privater Raum, der für spezielle Aktivitäten und spezielle Gruppen geöffnet ist.

Gab es einen bestimmten Zeitpunkt, an dem der öffentliche Raum nicht mehr allen gehörte?

Das passierte mit dem Einzug des Neoliberalismus. Es ist diese langsam eindringende Philosophie, dass die Regeln des Markts die beste Art wären, eine Gesellschaft zu organisieren. Weniger Staat, weniger öffentlicher Besitz, dann würde sich alles dem Markt gemäß einrenken. Effektiv bedeutet das, dass der öffentliche Raum denjenigen gehört, die sich ihn leisten können. Es ist äußerst wichtig, dass der öffentliche Raum auch in öffentlicher Hand bleibt und allen Menschen offensteht. Natürlich muss er reguliert werden, denn es birgt auch Gefahren und Gewaltpotenzial, wenn alle möglichen Lebensweisen im öffentlichen Raum stattfinden.

Man hört ja oft, der öffentliche Raum sei überreguliert. Was Sie sagen, ist, dass er nicht überreguliert ist, sondern im Gegenteil: den freien Kräften des Markts überlassen!

Absolut. Es muss eine leichte Form der Regulierung geben. Mit Technologie, Aufsehern, bürgernaher Polizeiarbeit. Sonst haben Frauen und ältere Menschen eine harte Zeit. Ein komplett unregulierter öffentlicher Platz ist problematisch, weil er von bestimmten Gruppen kolonialisiert wird. Die Stärksten, Lautesten, Gewalttätigsten, Arrogantesten nehmen den Platz ein.

Ist Videoüberwachung notwendig?

Manchmal schon. Im Vereinigten Königreich gibt es mehr Kameras auf den Straßen als in jedem anderen europäischen Land. Viele progressive Linke sehen das als Verletzung ihrer Bürgerrechte. Ich bin nur halb einverstanden. Wo es Gewalt auf der Straße gibt, sind Videokameras eine gute Sache. Die Straßen werden sicherer.

Öffnungszeiten für öffentliche Plätze?

Prinzipiell bin ich kein Freund von Öffnungszeiten. Andererseits: Wenn ein öffentlicher Platz nach Einbruch der Dunkelheit für Tätigkeiten missbraucht wird, die dem Ort schaden, ist das dann gut? Wohl nicht.

Sie sprechen von einer möglichst leichten Regulierung. Die Freiheit von einigen geht aber oft auf die Kosten anderer.

Absolut. Im idealen öffentlichen Raum bestehen viele Gruppen nebeneinander, und keine einzige fühlt sich durch die anderen gestört. Das Problem ist meist der Lärm: laute, dröhnende Musik. Wo die Präsenz des einen zur Misere des anderen wird, braucht es eine starke, aber freundliche Hand, die eingreift. Die Leute trauen sich oft gar nicht, andere zu bitten, die Musik leiser zu drehen.

Wenn im öffentlichen Raum alle Gruppen nebeneinander existieren können – würde sich das auf die Gesellschaft auswirken?

Der Einfluss ist indirekt, er wirkt unbewusst. Man kreiert eine Atmosphäre, in der die Menschen lernen, in Diversität zu leben. Davon braucht Europa mehr. Vor allem in den vergangenen Jahren, mit der Wiederauferstehung der Rechten und einer politischen Kultur, die sich extrem gegen Minderheiten richtet und Privatisierungen unterstützt. In diesem Kontext kann der öffentliche Raum entscheidend sein. Wir sollten aber nicht zu viel erwarten. Es gibt Leute, die denken, dass in einem multikulturellen öffentlichen Raum alle Freunde werden. Das wird nie passieren. Das ist einfach unrealistisch.

Wenn eine Gemeinschaft jetzt ein Stück des öffentlichen Raums zurückerobern möchte: Wie kann das funktionieren? Mit Guerilla-Aktionen? Oder muss das von oben geschehen?

Es muss ein Mix aus beidem sein. Guerillabewegungen können ein zündender Funke sein, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Mächtigen hören nie zu, bis sie dazu gezwungen werden. Wenn man aber keine organisierte Gruppe ist und weiß, was man tut, wird man schnell vertrieben. So sollte man es machen: Zusammenkommen, einen durchdachten Plan erstellen, Forderungen auflisten – und dann zu den zuständigen Behörden gehen. Die Occupy-Bewegung in Brasilien hat das gut gemacht. Militante Aktionen allein bringen einen nicht weit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2014)

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