Der typische hiesige Spitzenpolitiker lebt sein ganzes Leben lang von Geld, das anderen eher unfreiwillig abgeknöpft wird. Ist das befriedigend?
Wenn der offizielle Lebenslauf des neuen ÖVP-Chefs, Reinhold Mitterlehner, nicht noch irgendwo eine kleine Lücke aufweist, dann hat der Mann in seinem ganzen Arbeitsleben, anders als jeder Arbeiter, Angestellte oder kleine Gewerbetreibende, nicht einen einzigen Euro auf dem freien Markt verdient.
Seit er sein Jusstudium (erfolgreich) beendet hat, danach erst Wirtschaftskammer-Mitarbeiter und später Politiker wurde, finanziert Mitterlehner seinen Lebensunterhalt aus den Zwangsbeiträgen der unfreiwilligen Wirtschaftskammermitglieder oder als Politiker aus den ebenso wenig freiwilligen Abgaben der Steuerzahler. Mitterlehner hat also sein ganzes Erwerbsleben von Geld gelebt, das anderen Leuten zwangsweise weggenommen worden ist.
Mitterlehner ist der prototypische Bewohner jener geschützten Sozialpartner- und Staatswerkstätten, deren Insassen im Gegensatz zu allen anderen Österreichern vor allen Risken des Erwerbslebens nahezu vollständig beschützt sind. Sie reisen sozusagen in der Businessclass der Arbeitswelt und lassen sich ihr Ticket auch noch von den armen Schweinen zahlen, die hinten in der Holzklasse um ihr wirtschaftliches Überleben rangeln müssen.
Das heißt nicht, dass er deswegen ein schlechter Parteichef sein muss, ganz im Gegenteil: Vermutlich hat die ÖVP schon deutlich untalentiertere Anführer gehabt. Schon allein der Umstand, dass er in Gestalt des Hans Jörg Schelling einen kompetenten und vor allem materiell völlig von der Politik unabhängigen Finanzminister installiert, spricht sehr für Mitterlehner. Nur starke Führungspersönlichkeiten vermögen sich mit starken Persönlichkeiten zu umgeben. (Ein Problem, das übrigens dem derzeitigen Bundeskanzler recht geläufig sein dürfte.)
Vermutlich sind deshalb auch erstmals seit längerer Zeit die Chancen der ÖVP, ihr seit Jahren andauerndes Begräbnis doch noch zu überleben, leidlich intakt: Personell ist die Regierungsmannschaft derzeit verblüffend ansehnlich. Auch das spricht für Mitterlehner.
Das ändert freilich nichts daran, dass Österreichs Politik insgesamt ein ziemliches Problem hat, wenn Männer und Frauen in diesem Geschäft vorherrschen, die ihr ganzes Leben im Apparat verbracht haben, ohne auch nur einen einzigen Tag so gelebt zu haben wie jene, deren Interessen sie zu vertreten haben: mit der nie ganz verschwindenden Sorge um das eigene Aus- und Fortkommen, mit den Existenzängsten in den grauen Stunden morgendlicher Schlaflosigkeit, aber auch ab und zu mit der Hoffnung, durch eigene Leistung viel weiter zu kommen als jene, die sich im Inneren einer jener Kammern kuschelig einrichten, die andere gegen deren Willen um ihr auf dem Markt erwirtschaftetes Bares bringen darf.
Ein Problem ist das deshalb, weil bekanntlich „das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein“ bestimmt, wie schon Karl Marx beobachtet hat. Deswegen fällt der Blick auf die Welt aus dem Inneren des bestens geschützten Apparates naturgemäß anders aus als jener aus den Kampfzonen des freien Marktes. Man kann das Politikern wie Mitterlehner nicht einmal vorwerfen, das liegt einfach in der Natur der Sache.
In der Praxis führt das gewöhnlich dazu, dass sich die Menschen aus dem Apparat an der Macht im Zweifel arg schwertun, die Interessen jener zu vertreten, die unter den Bedingungen des freien Marktes ihr eigenes Einkommen und noch dazu jenes der Apparatinsassen verdienen müssen. Die Art und Weise etwa, wie die ÖVP am Anfang des Jahres die Selbstständigen (mittels ins Auge gefasster Abschaffung des Gewinnfreibetrages) massiv schädigen wollte, spiegelt dieses Phänomen wider: Das Sein des Apparates formte eben dessen Bewusstsein.
Dagegen hilft nur eines: Zehn Jahre in der Politik, und dann ist Schluss. Auch Politikern darf das schöne Erfolgserlebnis nicht verwehrt bleiben, mit ehrlicher Arbeit auf dem freien Markt ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
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Zum Autor:
Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.09.2014)