Massensterben im Mittelmeer

Migrants are seen crammed onto a rubber dinghy before being saved by Italian Navy rescue at about 100 miles from the southern coast of the Sicilian island of Lampedusa
Migrants are seen crammed onto a rubber dinghy before being saved by Italian Navy rescue at about 100 miles from the southern coast of the Sicilian island of Lampedusa(c) REUTERS (HANDOUT)
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Zwischen Libyen und Lampedusa starben seit Sonntag mindestens 330 Flüchtlinge, als ihre Boote kenterten. Das Unbehagen an der EU-Grenzschutz-Mission Triton wächst in Italien.

Lampedusa/Rom. 29 Tote hatte man am Montag gezählt. Am Mittwoch gingen Italiens Behörden und Hilfsorganisationen von mindestens 330 bis 400 aus. Alles Flüchtlinge. Alle umgekommen, wieder einmal, ertrunken und erfroren beim Versuch, das winterliche Mittelmeer zwischen Libyen und der italienischen Insel Lampedusa zu überqueren.

Die Proteste in Italien gegen die aktuelle „Grenzsicherung“ durch die Operation Triton der EU werden immer lauter; der Leiter des Europa-Büros des UNHCR in Genf, Vincent Cochetel, warnt vor noch mehr Toten, wenn Europa die fliehenden Menschen „der Barmherzigkeit der See“ überlasse. Sogar bei der EU in Brüssel hieß es am Mittwoch: „Beim Thema Immigration müssen Kommission, Mitgliedstaaten und europäische Einrichtungen mehr tun.“

Zwei Handelsschiffe – mehr kamen wegen des außergewöhnlich harten Winterwetters gar nicht in die Nähe – retteten zwei weitere Barken, konnten aber nur neun Überlebende bergen. Die anderen, so erzählten diese Männer, seien alle schon tot.

Gewalttätige Schleuser

Mittlerweile weiß man aus Berichten der Überlebenden, dass am Samstag sogar vier Boote von Libyen aus aufgebrochen sind – „aufbrechen mussten“, wie die Geretteten erzählen: Mit Gewalt gedrängt von den Schleusern, jedes Schlauchboot besetzt mit knapp 100 Flüchtlingen, die meisten aus Schwarzafrika.

Der Aufschrei in Italien ist einhellig: Da hatte dieses Land – seit der Lampedusa-Tragödie mit 366 Toten im Oktober – eine riesige Operation zur Verhinderung weiterer Katastrophen im Mittelmeer eingeleitet, Kriegsschiffe der Marine bis vor den Küsten Libyens und Tunesiens patrouillieren lassen, zehntausende aus dem Wasser gezogen. Dann, nach einem Jahr und monatlichen Kosten von neun bis zehn Millionen Euro, hatte man diese Aktion, Mare Nostrum, aufgegeben und alles an die europäische Grenzschutzbehörde Frontex abgetreten. Die investiert für ihre Operation Triton nur drei Millionen Euro pro Monat, hat keinen Auftrag mehr, Flüchtlinge zu retten, sondern nur noch – innerhalb der 30-Meilen-Zone europäischer Hoheitsgewässer bleibend – „die Grenzen zu sichern“. Und schon, so protestieren Politiker und Kirche und Hilfsorganisationen, „geht das Sterben wieder los“.

„Wollen Touristen statt Tote“

Widerlegt sieht Italien auch die Kritik an Mare Nostrum. Von nördlich der Alpen, auch aus Brüssel, hatte man immer kritisiert, die „Aussicht auf sichere Rettung“ durch italienische Schiffe stelle eine Einladung, ja Aufforderung an Schleuser dar, Flüchtlinge loszuschicken. Seit 1.November ist Mare Nostrum beendet; derlei spricht sich auch unter Flüchtlingen und Menschenschmugglern unverzüglich herum, und dennoch ist die Zahl der Boat People seither weiter gestiegen. Mehr als 3800 waren es seit Jahresanfang, eineinhalb Mal so viele wie unter Mare Nostrum ein Jahr zuvor.

„Wir wollen Touristen hier und keine Leichen!“, sagt Giusi Nicolini, die viel geprüfte Bürgermeisterin auf Lampedusa: „Triton ist ein Polizeieinsatz, so als ginge es gegen einen bewaffneten Angriff, aber auf dem Meer ist eine große humanitäre Katastrophe im Gange. Dagegen braucht es andere Mittel.“

Zahlreiche Abgeordnete in Rom fordern die Rückkehr zu Mare Nostrum – „ob die anderen europäischen Länder wollen oder nicht, ob es uns Stimmen bringt oder nicht“, wie der frühere Regierungschef Enrico Letta twitterte. In Italien gibt's aber auch Rechtsextreme wie den Chef der Lega Nord, Matteo Salvini, der sich anschickt, Führer der ganzen Opposition zu werden: „Wieder Tote auf den schmutzigen Gewissen der Gutmenschen“, twitterte er: „Auch Triton bringt nichts. Stellen wir es doch gleich ein!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.02.2015)

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