Analyse: "Birdman" spielt im Ring, "Boyhood" in den Randbezirken

Director Alejandro Inarritu is congratulated by actor Michael Keaton as he walks to accept the Oscar for Best Director his film ´Birdman´ at the 87th Academy Awards in Hollywood, California
Director Alejandro Inarritu is congratulated by actor Michael Keaton as he walks to accept the Oscar for Best Director his film ´Birdman´ at the 87th Academy Awards in Hollywood, California(c) REUTERS (MIKE BLAKE)
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Dass „Birdman“ bei der heurigen Oscar-Verleihung mit den wichtigsten Preisen ausgezeichnet wurde, ist konservativ und mutlos. Richard Linklaters bewegender Entwicklungsroman „Boyhood“ hingegen rüttelt an Hollywoods Grundsätzen – und wurde weitgehend übergangen.

Die Academy besteht aus Menschen. Und Menschen machen bekanntlich Fehler. Wie etwa Richard Linklaters singulären Entwicklungsroman „Boyhood“ nicht zum „Besten Film“ zu machen. Stattdessen war es Alejandro G. Iñárritus „Birdman“, der bei den 87. Academy Awards alle Konkurrenten überflügelt hat. Nicht unbedingt in der Quantität der Auszeichungen – mit vier Oscars hat er genau so viele erhalten wie Wes Andersons schrullig-liebenswertes „Grand Budapest Hotel“ –, dafür aber in deren Relevanz: Die technisch furios inszenierte Selbstreflexions-Tour de Force eines in Gunst und Bekanntheit gestürzten Hollywood-Schauspielers (Michael Keaton im atemlosen Comeback-Modus) wurde sehr verdient für die schwerelose Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki ausgezeichnet, aber auch als „Bester Film“ und Iñárritu als „Bester Regisseur“ gekürt.

Es ist eine konservative Wahl. Denn „Birdman“ ist in vielerlei Hinsicht eine intelligente Satire über die Theater- und Filmbranche, eine berauschende Arbeit, in der sich Hollywood wieder erkennt, nicht zuletzt weil dem Kino und der Kunst darin eine existenzielle Gravitas zugedacht wird. Wenn man so will, erzählt Iñárritu vom Inneren der Filmindustrie heraus, berichtet von der geringen Halbwertszeit von Ruhm und Würde.

„Birdman“ ist, entgegen anders lautender Gerüchte, kein Indie-Film, sondern studiofinanziert. Umgelegt auf Wien würde er im 1. Bezirk, innerhalb des Rings, residieren, während Linklaters „Boyhood“ außerhalb des Gürtels läge, in einem wilden, weniger aufpolierten Grätzel. Erneuerungsbewegungen entstehen selten im Schoß der Macht, sondern drängen von den Randbezirken in die Mitte hinein. Richard Linklater, seine Schauspieler und seine Crew haben „Boyhood“ über zwölf Jahre hinweg gedreht. Man sieht einem Buben dabei zu, wie er zum jungen Mann heranwächst. In Echtzeit. Ein experimentelles Konzept, noch dazu sehr weit weg von Hollywood, wo man die Zeit ja lieber einfriert, als ihr Vergehen zu thematisieren. Im Fall von „Boyhood“ ist das subtil und sehr bewegend: Im Kern rüttelt Linklater am Verhältnis zwischen dem Kino und der Zeit selbst und damit an einem Axiom der Kunstform.

Auch Oscarfilme werden vergessen

Die Academy hatte die historische Chance, das anzuerkennen und entschied sich letztendlich dagegen. Wie Iñárritu in einer seiner drei Dankesreden meinte: „Only time will tell“, nur die Zeit wird zeigen, ob sein „Birdman“ in die Filmkunstgeschichte eingehen wird. Oder ob der Oscarfilm doch vergessen wird, wie so oft zuvor, das Außergewöhnliche und Extravagante aber selbst dann bleibt, wenn es nicht ausgezeichnet wurde: Etwa 1969, als Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ mit einem Oscar für visuelle Effekte abgeschasselt wurde und Carol Reeds Musical „Oliver!“ die Hauptpreise abräumte.

Nicht nur viele Auszeichnungen waren heuer konservativ und mutlos, auch die Show selbst. Moderator Neil Patrick Harris, grundsätzlich ein Sympathieträger, hangelte sich mit schlecht geschriebenen Schmähs durch die Zeremonie, die Musikeinlagen mit Darbietungen der fünf nominierten „Besten Songs“ rangierten vom Effekt her irgendwo zwischen Wadenkrampf und Schulterzucken. Lady Gagas inbrünstig durch das Dolby Theatre gedonnerte Tribut an das Kult-Musical „The Sound of Music“ kulminierte in der Begegnung der Artpop-Sängerin mit der „Maria von Trapp“ aus dem Film, Julie Andrews. Immerhin: Die ausgezeichneten Schauspieler (J. K. Simmons für „Whiplash“, Eddie Redmayne für „Die Entdeckung der Unendlichkeit“) und Schauspielerinnen (Patricia Arquette für „Boyhood“, Julianne Moore für „Still Alice“) sind Ausnahmetalente und absolut preiswürdig, wenn auch nicht unbedingt für die jetzt Oscar-geadelten Rollen.

Aber ein bitterer Nachgeschmack von dieser Verleihung bleibt. Das Gesetzte und Gefahrlose wurde – wenngleich „Birdman“ ein sehr guter Film ist – über das Experimentelle gestellt. Heraus gekommen ist am Ende eine unterwürzte Hollywood-Sulz: alles fest gehalten in Aspik, nur „Boyhood“ wurde vom Tellerrand geschoben.

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