Wer hat mehr Macht über das Parlament: Obama? Faymann?

ENQUETTE-KOMMISSION 'WUeRDE AM ENDE DES LEBENS'
ENQUETTE-KOMMISSION 'WUeRDE AM ENDE DES LEBENS'APA/GEORG HOCHMUTH
  • Drucken

In Österreich kontrolliert die Regierung die Gesetzgebung – es ist damit viel mehr Normalfall, als oft geglaubt wird.

Nach Wilhelm F. Czerny ist das Parlament der Ort, an dem Gesetze „beschlossen“ – nicht „gemacht“ werden. Das gilt nicht nur für das österreichische Parlament, sondern für alle Parlamente – jedenfalls für die, in denen die Parlamentsmehrheit mit der Regierung politisch verbunden ist: in denen eine Regierung nicht gegen eine Parlamentsmehrheit existieren kann.

„Gemacht“ werden Gesetze im vorparlamentarischen Raum. Hier treffen die verschiedenen Interessen aufeinander; hier wird um Kompromisse gerungen; hier werden legislative Weichen gestellt. Überall in parlamentarischen Systemen kommt dem Kabinett, dem Ministerrat also, eine entscheidende Bedeutung zu. Fast überall ist das Kabinett – also die Versammlung der Regierungsmitglieder – das Nadelöhr, durch das eine Gesetzesinitiative durch muss.

Durch dieses Nadelöhr zu kommen, ist im Falle von Koalitionsregierungen mit Auflagen verbunden. Da in Österreich der Ministerrat nur einstimmig Beschlüsse fassen kann, setzt ein Beschluss Absprachen zwischen den Koalitionsparteien voraus.

Gesetze sind das Ergebnis von Druck und Gegendruck. Sie sind Spiegelbild der Interessenlage einer Gesellschaft. In Österreich sind Interessen in besonderem Maße gebündelt – in Kammern, freien Verbänden und staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften. Allen diesen, wie auch den Ländern, kommt ein Anhörungsrecht in Form einer Begutachtung zu. Wenn der Entwurf in den Ministerrat kommt, haben alle wichtigen Interessen Position bezogen – und der Ministerrat kann abschätzen, ob und auf welches Minenfeld sich die Regierung begibt.

Aufstand ausgeschlossen. Sobald der Ministerrat einen Ministerialentwurf zu einer Regierungsvorlage gemacht hat, kommt diese ins Parlament. Da die politische Identität zwischen Mehrheit im Nationalrat und Regierung vorauszusetzen ist, ist im Regelfall die Entscheidung vorgegeben. Denn bei aufrechter Partei- und Fraktionsdisziplin kann davon ausgegangen werden, dass es nicht zu einem „Aufstand“ in den Fraktionen der Regierungsparteien kommt.

Die Bundesregierung in Form des Ministerrates hat kein formelles, aber ein faktisches Monopol auf Gesetzesinitiativen, die real Chancen haben, beschlossen zu werden. Die einzig wichtige Ausnahme ist gegeben, wenn die Regierung – um eine verfassungsrechtlich gebotene Zweidrittelmehrheit zu erreichen – Stimmen der Opposition braucht. Dann muss verhandelt werden, dann genügt ein Kompromiss zwischen den Regierungsparteien nicht.

Ist die österreichische Situation eine besondere, gar einmalige? Nein – solange in Österreich die Existenz einer Bundesregierung von der Mehrheit im Nationalrat abhängt, solange das politische System den meisten der anderen parlamentarischenDemokratien Europas grundsätzlich gleicht, entspricht die Rolle der österreichischen Bundesregierung der dominanten Rolle etwa des britischen Kabinetts: Die Regierung kontrolliert die Gesetzgebung.

In diesem Sinn ist das Zusammenspiel von Ministerrat und Nationalrat im Rahmen der europäischen Normalität. Regierung und Parlamentsmehrheit agieren als Einheit – die Steuerung der Entscheidungen liegt bei der Regierung. Kann sich diese Abhängigkeit ändern? Ja, aber nur dann, wenn die Prinzipien eines parlamentarischen Systems aufgegeben und eine Präsidialrepublikà la USA eingeführt wird. In keiner anderen Demokratie agiert das Parlament derartig unabhängig von der Exekutive. Der US-Kongress ist nicht Umsetzungsorgan des Willens des Präsidenten, sondern ebenbürtiger Widerpart.

Blockaden. Das hat einen Preis: Blockaden zwischen Kongress und Präsident sind an der Tagesordnung, das politische System ist vor allem (nicht nur) gelähmt, wenn die Partei des Präsidenten keine Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses hat. Es mag als Paradox erscheinen, dass eine Präsidentschaftsrepublik einen lebendigeren, eben deshalb unberechenbaren Parlamentarismus mit geringer Partei- und Fraktionsdisziplin ermöglicht – und parlamentarische Systeme auf politischen Vorrang der Exekutive hinauslaufen.

Was in Österreich auffällt, das ist, dass im Ministerrat und erst recht im Nationalrat dieser Pluralismus in den Parteien gegenüber der Öffentlichkeit selten eingestanden wird. Daran haben auch Medien ihren Anteil, die inner- und zwischenparteiliche Konflikte nicht als Lebenszeichen der Demokratie sehen, sondern allzu rasch als „Streitereien“ denunzieren. Insgesamt ist Österreich viel mehr „Normaldemokratie“, als es im Lande selbst geglaubt wird.

Steckbrief

Politologen-Ikone
Der heute 73-jährige Anton Pelinka war mehr als drei Jahrzehnte (1975–2006) Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Derzeit lehrt Pelinka an der englischsprachigen Central European University in Budapest.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Wie stark gekrümmt dürfen Gurken sein?
Europa

Brüssler Regelungen: Zu viel des Guten

Jahr für Jahr entstehen in Brüssel hunderte neue Verordnungen und Richtlinien. Die Bürokratie arbeitet oft in guter Absicht, aber mit fatalen Folgen für die EU-Stimmung.
Europafahne - flag of europe
Europa

Verbote, Regeln und viele Gerüchte

Der EU-Bürokratie werden viele sinnlose Gesetze nachgesagt. Doch nicht alle gibt es wirklich.
Grossdemonstration der Blockupy Bewegung anlaesslich der Einweihung der EZB Europaeische n Zentralba
Wissenschaft

Die Menschheit ist heute so friedlich wie noch nie

Dass die Gewalt explodiert, kommt uns nur so vor, weil unser Gedächtnis kurz ist. Wahr ist das Gegenteil: Im Lauf der Geschichte ging Gewalt frappant zurück. Psychologe Steven Pinker hat es bilanziert.
Wissenschaft

War früher alles besser?

Mythos und Wahrheit - ein Überblick.
Wahlen
Wissenschaft

Die unbekannten Wähler

Wählen Menschen mit geringem Einkommen anders? Diese Frage stellen Meinungsforscher nicht.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.