„Die Briten haben das Beste aus beiden Welten“

British PM Cameron casts a shadow as he speaks during a campaign visit in Frinton-on-Sea
British PM Cameron casts a shadow as he speaks during a campaign visit in Frinton-on-Sea(c) REUTERS
  • Drucken

Eigene Währung und Zugang zum EU-Binnenmarkt – Grégory Claeys vom Brüsseler Thinktank Bruegel hält Großbritanniens aktuelles Arrangement mit Europa für sehr vorteilhaft.

Die Presse: Wie hat sich die Struktur der britischen Wirtschaft seit dem Beitritt Großbritanniens zur EWG Anfang der 1970er-Jahre verändert?

Grégory Claeys: Sehr deutlich – allerdings gingen nicht alle Veränderungen auf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zurück. Ein Aspekt des Wandels war der Rückgang der Industrieproduktion, der andere war der Aufstieg des Finanzsektors. Diese Weichenstellungen wurden allerdings nicht von der EWG verursacht...

...sondern von der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher.

In der Tat gab es Anfang der 1980er-Jahre einen politischen Wandel (hin zu Deregulierung und Privatisierung, Anm.). Interessant in dem Kontext ist allerdings die Entwicklung des Handels zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa. Die Handelsstatistiken zeigen auf, dass vor dem EWG-Beitritt nur 30 Prozent des britischen Außenhandels mit Europa abgewickelt wurde. In den 1990er-Jahren belief sich dieser Anteil auf 60 Prozent, seither hat er sich etwas verringert.

Wie sehr hängt Großbritannien vom Handelspartner EU ab? Befürworter eines britischen EU-Austritts würden ihr Land bekanntlich lieber Richtung Fernost orientieren.

Der Anteil des Überseehandels hat zwar zugenommen. Die wichtigsten Partner bleiben aber nach wie vor die Nachbarn. Ehemalige Dominions wie Australien spielen heute keine so große Rolle mehr.

Genau auf diese gemeinsame Vergangenheit berufen sich aber die Commonwealth-Nostalgiker unter den Befürwortern des EU-Austritts.

Ich glaube nicht, dass der Austritt diese Beziehungen nachhaltig verbessern würde. Heutzutage sitzen die wichtigsten Handelspartner Australiens nicht in London, sondern in Shanghai und Tokio – was in der geografischen Natur der Sache liegt. Ich wüsste nicht, warum Australien mehr britische Güter kaufen sollte, nur weil Großbritannien aus der EU ausgeschieden ist.

Lassen sich die Folgen des EU-Austritts ernsthaft beziffern?

Sehr schwer, denn sie hängen davon ab, welchen Deal die EU den Briten anbieten würde. Ich bezweifle, dass der Rest der Union London einen ähnlich großzügigen Zugang zum EU-Binnenmarkt anbieten würde, wie ihn Norwegen oder die Schweiz haben.

Sie haben bereits die Finanzdienstleistungen angesprochen. Zumindest die City of London hat von der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens profitiert, sie ist ja zum Finanzzentrum der Union aufgestiegen.

Das stimmt. Inwieweit die EU-Mitgliedschaft dafür den Ausschlag gegeben hat, ist wiederum schwer festzustellen. Würde der Brexit etwas daran ändern? Auch das wäre von den Verhandlungen abhängig.

Was macht Großbritannien eigentlich zu einem derart attraktiven Investitionsstandort? Ist es das Finanzzentrum in London, die englische Sprache, oder andere Eigenschaften?

Ganz bestimmt das Englische, dann der Zugang zum Binnenmarkt der EU und ein flexibler Arbeitsmarkt, vor allem, was die Finanzbranche anbelangt.

Seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 hat sich die britische Wirtschaft besser entwickelt als die Volkswirtschaften Kontinentaleuropas. War die Kontrolle über die eigene Geldpolitik der ausschlaggebende Unterschied?

Strukturell ist die britische Wirtschaft flexibler, das hat auf jeden Fall geholfen. Die Bank of England und das britische Pfund waren aber zwei entscheidende Faktoren. Die Briten reagierten auf die Krise viel schneller mit Leitzinssenkungen als die Europäische Zentralbank in der Eurozone. Und sie waren auch viel entschlossener, unorthodoxe Methoden wie Quantitative Easing (Ankauf von Staatsanleihen durchdie Notenbank, Anm.) anzuwenden. Sie fingen damit 2009 an, die EZB hat sich zu diesem Schritt erst heuer durchgerungen. Dazwischen liegen sechs Jahre.

Man könnte also argumentieren, dass einer mittelgroßen Volkswirtschaft wie Großbritannien die Einführung des Euro mehr schadet als nutzt.

Eine glaubwürdige Geldpolitik, ein flexibler Wechselkurs und freier Handel in Europa sind in meinen Augen ein sehr guter Deal. Deswegen verstehe ich nicht, dass die Briten dieses Arrangement aufs Spiel setzen wollen. Sie haben derzeit das Beste aus beiden Welten: das Pfund und den EU-Binnenmarkt. Für Euromitglieder wie Spanien waren die Folgen der Krise viel schmerzhafter. Sie konnten nicht extern abwerten, weil sie keine Kontrolle über den Euro hatten, sondern mussten es intern tun – also über eine Senkung der Reallöhne. Die Briten hingegen konnten von der Abwertung des Pfund profitieren. Das hatte zwar etwas höhere Inflationsraten zur Folge, aber das war nicht der Rede wert.

Der Euro hat sich also nicht als ein Segen erwiesen.

Aus der Perspektive der Schöpfer der Einheitswährung betrachtet führte kein Weg am Euro vorbei – man konnte sich damals eine fortschreitende europäische Integration nicht unter der Bedingung flexibler Wechselkurse vorstellen. Rein ökonomisch betrachtet war die Entscheidung über die Einführung des Euro möglicherweise nicht optimal. Es war ein politisches Projekt. Dass Länder wie Litauen oder Lettland trotz aller Probleme der Eurozone beitreten wollten, lässt darauf schließen, dass beim Projekt Euro die Prioritäten anders gewichtet sind.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.04.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

BRITAIN FASHION FOR FLOOD RELIEF
Europa

Der EU-Austritt: Wenig Potenzial, aber hohes Risiko

Schätzungen zufolge könnte der Austritt Großbritanniens BIP um 1,5 Prozent steigern – damit dies eintritt, müsste sich London allerdings aller Mindeststandards entledigen.
FRANCE HISTORY RESISTANCE DE GAULLE SARKOZY
Europa

Zwei Anläufe und viele Rückschläge

Der schwere Weg Großbritanniens in die Gemeinschaft hat einen Namen: Charles de Gaulle.
FILE BRITAIN MARGARET THATCHER
Europa

Sonderregeln, Rabatte und eine lange Hassliebe

Seit dem EG-Beitritt 1973 war es mit Großbritannien nie einfach. Wie andere kämpfte es um seine Interessen, doch es brachte sich auch um Chancen, die EU zu gestalten.
A fan of the royal family wears a union jack hat decorated with badges outside the Lindo Wing of St Mary's hospital in London
Europa

Staatstheorie: Hobbes, Locke und Smith

Ohne englische Philosophen wäre das heutige Europa nicht denkbar.
BRITAIN ECONOMY
Europa

Wirtschaftsbeziehungen mit EU sind unersetzlich

Der Großteil des britischen Außenhandels wird mit der EU abgewickelt – und das würde sich auch nach einem Austritt des Vereinten Königreichs keineswegs fundamental ändern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.