Die Fahne – das wichtigste Utensil des ESC-Fans.
Verkehrte Welt ist vielleicht zu hoch gegriffen. Ungewöhnlich waren die Bilder, die sich diese Woche boten, aber jedenfalls: Das Tschocherl ums Eck, wie der Wiener eine urige Gaststätte zu nennen pflegt, hatte auf einmal eine Regenbogenfahne hinter der Fensterscheibe. Und homosexuelle Fangruppen zogen mit den Nationalflaggen ihrer Herkunftsländer durch die Stadt. Hatte der Song Contest schon bisher den Ruf, eine „schwule Fußball-EM“ zu sein, so hat sich das in Wien – auch unter dem Eindruck des Life Ball eine Woche zuvor – noch einmal verstärkt.
Und wie bei Fußball-Europameisterschaften, so scheint auch beim Song Contest die Nationalfahne das wichtigste Utensil der Fans, ob nun homosexuell oder heterosexuell, zu sein. Ob in der Stadthalle oder beim Public Viewing. Mehr armenische Nationalfahnen als auf dem Wiener Rathausplatz am Dienstagabend beim ersten Semifinale dürften in der armenischen Hauptstadt Jerewan auch nicht wehen.
Wir haben es hier mit einem sanften Nationalismus zu tun. Building Bridges, alle mögen sich – aber doch ist die Nation ein entscheidender Faktor. Als beim zweiten Semifinale des vorigen Song Contest in Kopenhagen das Voting bekannt gegeben wurde und nur noch ein Ticket zu vergeben war – Österreich hatte noch keines –, da skandierte die Menge in der Halle auf einmal lautstark „Aus-tria! Aus-tria!“ (und eben nicht „Conchita! Conchita!“).
Solches hatte man beim Song Contest schon lange nicht mehr – wenn überhaupt schon einmal – gehört. Es dürfte selbst homophobe Fernsehzuseher, die zufällig das Gerät laufen hatten, mit einem gewissen Stolz erfüllt haben. Conchita Wurst holte das letzte Ticket – und man konnte erahnen, was daraus noch werden könnte. Die „Krone“ jedenfalls, bis dahin nicht gerade das Leitmedium des Regenbogen-Lifestyles, rief ab diesem Moment den Conchita-Wurst-Patriotismus aus.
Fast wie im Fußball. Werden internationale Fußballwettbewerbe seit jeher gern als Sublimierung früherer kriegerischer nationaler Fehden gedeutet, so gilt das umso mehr für den Song Contest. Eine Auseinandersetzung der Nationen – in plüschiges Plüsch gewickelt. Im Fußballfansektor sieht man sie noch des Öfteren, die hässliche Fratze des Nationalismus. Im Song-Contest-Fansektor sieht man nur bunte Fahnen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2015)