Islamischer Staat: Die blutige Bilanz der Terrormiliz

A burnt vehicle belonging to Iraqi security forces is pictured at a checkpoint in east Mosul, one day after radical Sunni Muslim insurgents seized control of the city
A burnt vehicle belonging to Iraqi security forces is pictured at a checkpoint in east Mosul, one day after radical Sunni Muslim insurgents seized control of the city(c) REUTERS
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Vor einem Jahr eroberte der IS Mossul. Seither herrscht er über seinen eigenen Terrorstaat. Dokumente, die den USA in die Hände fielen, geben nun neue Einblicke in die IS-Führungsstrukturen.

Kairo. „Wir kennen keine Grenzen, wir kennen nur Fronten“, heißt das Credo, das die schwarz gekleideten Krieger überall an die Mauern der eroberten Gebiete sprayen. Seit einem Jahr hält der sogenannte Islamische Staat (IS) die Großstadt Mossul im Nordirak besetzt. Nach der Eroberung von Ramadi und Palmyra kontrolliert er die Hälfte der bewohnten Gebiete Syriens und ein Drittel des Iraks, obwohl sich ihm eine internationale Streitmacht unter Führung der USA mit bisher 4000 Luftangriffen entgegenstemmt. Acht bis zehn Millionen Menschen leben unter der Herrschaft der Terrormiliz, deren Brutalität, Männlichkeitskult und scheinbar unaufhaltsame Dynamik weltweit immer mehr Sympathisanten anzieht.

Und so ist der IS wesentlich schlagkräftiger als der Terrorvorgänger al-Qaida. Seine Kämpfer sind gut trainiert und hoch motiviert, die Zahl der willigen Selbstmordattentäter offenbar grenzenlos. Die Waffen stammen zum großen Teil aus irakischen und syrischen Armeebeständen. Allein bei der Eroberung von Mossul fielen den Jihadisten 2300 Humvees, 40 M1-Abrams-Panzer, 52 Artilleriegeschütze sowie 74.000 Maschinengewehre in die Hände, Waffen im Gesamtwert von mindestens drei Milliarden Dollar.

Die ideologische Anziehungskraft des IS ist ungebrochen. 25.000 Personen aus 100 Nationen kämpfen nach Erkenntnissen der UNO in seinen Reihen, darunter mindestens 25 ehemalige deutsche Bundeswehrsoldaten. Die Gesamtstärke der Terrormiliz wird auf mehrere 10.000 bis, anderen Quellen zufolge, sogar auf 200.000 Mitglieder geschätzt.

Zu Beginn ihres Aufstiegs stützten sich die IS-Jihadisten vor allem auf Spenden aus den arabischen Golfstaaten. Mittlerweile holen sie sich das meiste Geld von den Bewohnern ihres „Kalifats“. Nach einer Studie der US-Rand-Stiftung nahm der IS 2014 durch Erpressung und Steuern 620 Millionen Dollar ein. Hinzu kommen der Schmuggel mit geraubten Antiquitäten sowie der Verkauf von Erdöl. Die Hälfte der Öleinnahmen fließt nach amerikanischen Erkenntnissen in die IS-Kriegskasse, ein Viertel wird als Gehälter an die Arbeiter ausgezahlt und ein Viertel in die Wartung der Anlagen investiert.

Gouverneure und ein Militärrat

Ähnlich ausgeklügelt ist auch die Aufgabenverteilung der wichtigsten Führungskader. IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi befehligt einen neunköpfigen Führungsrat, quasi das Kabinett seines Gottesstaates und damit das Herzstück des Regimes. Sein Vize, Adnan al-Sweidawi, ist für Syrien zuständig, der andere Vize, Fadel al-Hayali, für den Irak. Dieser steht zudem an der Spitze eines sechs- bis neunköpfigen Militärrats, der das Vorgehen auf dem Schlachtfeld bestimmt. Der IS-Führung unterstellt sind zwölf Gouverneure, die die verschiedenen Provinzen kontrollieren – fünf in Syrien und sieben im Irak.

Über die innere Kommandostruktur haben die USA nach Angaben der „New York Times“ kürzlich weitere aufschlussreiche Hinweise von Computern, Festplatten und Smartphones bekommen, die Mitte Mai einer Army-Delta-Force-Einheit in die Hände fielen, bei ihrer Kommandoaktion gegen Abu Sayyaf, einen der IS-Finanzgewaltigen für Ölverkäufe. Danach agiert Abu Bakr al-Baghdadi extrem vorsichtig, hält sich möglichst nur in dichten Wohngebieten auf und trifft seine regionalen Emire und Militärchefs regelmäßig im syrischen Raqqa, der Hauptstadt des Islamischen Kalifats.

(c) Die Presse

Informationsnetzwerk der IS-Frauen

Die Mitglieder der IS-Spitze in Syrien und Irak werden von besonders vertrauenswürdigen Fahrern abgeholt und müssen sämtliche Computer und Handys abgeben, damit die US-Streitkräfte sie nicht durch elektronische Überwachung orten können. Parallel dazu gibt es ein eigenes Informationsnetzwerk unter den Frauen der IS-Führer, weil diese weniger im Fokus der internationalen Satellitenkundschafter stehen. „Wir haben einiges gelernt, was wir bisher nicht wussten“, erklärte ein hochrangiger Mitarbeiter des US-Außenministeriums. „Jeden Tag wird das Bild klarer, was die Organisation ausmacht, wie hoch entwickelt und global sie agiert und wie vernetzt sie ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2015)

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