Das grausame IS-„Kalifat“ darf für die Welt nicht Normalität werden

Fighter from Misrata wear a gas mask to protect his face from wind near Sirte
Fighter from Misrata wear a gas mask to protect his face from wind near Sirte(c) REUTERS (GORAN TOMASEVIC)
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Das Staatsgebilde der IS-Extremisten ist ein Jahr alt. Um es ins Wanken zu bringen, sind stärkerer militärischer Druck und politische Lösungen nötig.

Plötzlich waren sie da, brausten heran mit ihren Humvee-Geländefahrzeugen und ihren schwarzen Jihadisten-Flaggen. Iraks Armee schien völlig überrumpelt und brachte sich in heilloser Flucht in Sicherheit. Es war vor einem Jahr, als die Kämpfer der Terrorgruppe Islamischer Staat im Irak und Großsyrien einen Siegeszug starteten: Sie rückten in die nordirakische Millionenstadt Mossul ein, riefen ein „Kalifat“ aus und benannten sich in Islamischer Staat (IS) um. Damit wollten sie signalisieren, dass sich ihre Herrschaftsansprüche nicht länger auf den Irak, Syrien und andere Teile der Levante beschränkten. Sie nahmen nun für sich in Anspruch, ein Staatsgebilde errichtet zu haben, in dem sie ihre bizarre Auslegung von Machtpolitik, Religion und gesellschaftlichen Normen ausleben können. Ein Gebilde, das in ihrer Vorstellung all denen eine Heimstätte bieten soll, die so verquer denken wie sie – und das immer weiter wachsen soll.

Tatsächlich kontrolliert der IS heute, ein Jahr später, ein Territorium, das von der türkischen Grenze über weite Teile Syriens bis vor die Tore der irakischen Hauptstadt Bagdad reicht. In diesem gewaltigen Gebiet gibt es staatliche Strukturen, die sich auf lokale Stammes- und Regierungsstrukturen und das Unterdrückungssystem des IS stützen. Die Jihadisten haben es tatsächlich geschafft, ihren eigenen Extremistenstaat aufzubauen.

Sollte der IS in Zukunft nicht mit einer Serie massiver militärischer Niederlagen und Aufständen in seinem Territorium konfrontiert werden, wird sein „Staat“ wohl auch noch länger Bestand haben. Dann droht eine Gefahr: Die Welt könnte sich an die IS-Terrorherrschaft gewöhnen. Das Abnorme könnte irgendwann zur Normalität werden und international als solche akzeptiert werden.

Das darf aber keinesfalls passieren. Der sogenannte Islamische Staat vertritt eine totalitäre Ideologie, die grundlegenden Menschenrechten zuwiderläuft. Jede Form von Meinungs- oder Religionsfreiheit, jeder Hauch von Widerspruch werden mit grausamsten Methoden unterdrückt. Und Sklaverei wird – ganz offen – praktiziert. Das IS-„Kalifat“ sticht unter anderen zeitgenössischen Gewaltregimen durch den massiven Drang hervor zu expandieren. „Wir haben keine Grenzen. Wir haben nur Fronten“, hat ein IS-Aktivist einmal in einem Interview erklärt. Und ein anderer sagte regungslos, man müsse notfalls eben Millionen Menschen töten, um „Abtrünnige“ wie die Schiiten – die zweite große Richtung im Islam – auszulöschen. Dass es den Jihadisten ernst ist, haben sie bewiesen: Menschen wurden ermordet, gefoltert, verschleppt, weil sie Gruppen angehörten, für die in der IS-Ideologie kein Platz ist, oder sich einfach den bizarren Anordnungen des IS nicht beugen wollten.

Solange das Staatengebilde der Jihadisten besteht, ist das eine gewaltige Bedrohung für die Nachbarn. Die zigtausenden vertriebenen Jesiden etwa könnten es kaum wagen, aus den Flüchtlingslagern in ihre Dörfer zurückzukehren, so lang der IS in Mossul herrscht. So lang ist auch die irakische Hauptstadt Bagdad nicht sicher, nicht die Kurdenregion im Nordirak, die weitgehend autonomen Kantone in Syrisch-Kurdistan oder Damaskus und viele andere Städte Syriens.

International hat man auch ein Jahr nach der Gründung des „Kalifats“ keine wirkliche Antwort auf das Problem IS gefunden. Die Luftangriffe der US-geführten Koalition haben zwar Schlachten mitentschieden. Sie waren aber nicht massiv genug, um das Konstrukt IS ins Wanken zu bringen. Vom Einsatz von Bodentruppen will man in den USA und Europa – gerade angesichts der letzten Irak-Erfahrungen – nichts wissen. Der militärische Druck wird aber erhöht werden müssen, um den IS in die Defensive zu drängen. Zugleich braucht es politische Lösungen. Auch wenn eine vernünftige Beendigung des Syrien-Desasters mittlerweile aussichtslos erscheint: Solange Chaos in Syrien herrscht, hilft das dem IS. Und im Irak muss die Regierung einen Ausgleich mit den sunnitischen Stämmen finden. Denn es waren unzufriedene lokale Sunnitenstämme, die vor einem Jahr bereitwillig die Tore ihrer Stadt Mossul für die Humvees der Jihadisten öffneten.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2015)

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