Warum China seinen eigenen Daten nicht traut

A worker braves the scorching heat as he dismantles scaffold on the top of the PingAn International
A worker braves the scorching heat as he dismantles scaffold on the top of the PingAn International(c) imago/Xinhua (imago stock&people)
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Die Statistikbehörde verkündet unerwartet hohes Wachstum, aber die Börse bricht wieder ein. Alle Welt munkelt über falsche Zahlen und starrt zugleich gebannt auf diese.

Peking/Wien. Das Gerücht rumort seit Langem: Den Wachstumszahlen aus Peking ist nicht zu trauen. Von Willkür und Manipulation ist die Rede. Aber noch nie wurden die Zweifel so laut wie in diesen Tagen. Nach dem Börsencrash der vergangenen Woche hatten sich die Kurse in Shanghai und Shenzhen wieder etwas erholt – vor allem durch brachiale staatliche Zwangsmaßnahmen. Aber just an dem Tag, als die Statistikbehörde ein unerwartet hohes Wachstum im zweiten Quartal verkündete, knickten sie wieder um vier Prozent ein. In sozialen Netzwerken spotten die Chinesen über gefälschte Daten. Was steckt hinter dem breiten Misstrauensbeweis?

1. Was macht die offiziellen Zahlen gerade jetzt so verdächtig?

Der Plan der Führung lautet für heuer: 7,0 Prozent Wachstum. Für das erste Quartal verkündeten die nationalen Statistiker als erreichten Wert: 7,0 Prozent. Und nun für das zweite Quartal: 7,0 Prozent. Solche Punktlandungen sind verdächtig – zumal viele unabhängige Daten, etwa aus der Autoindustrie, deutlich nach unten weisen.

2. Sind Chinas Statistiken weniger zuverlässig als die anderer Länder?

Die Behörde ist dem Einfluss des Regimes ausgesetzt. Die Methodik ist wenig transparent. Verdächtig auch das Tempo: Schon zwei Wochen nach Quartalsende liegen Zahlen vor. Im vergleichsweise winzigen Hongkong dauert es sechs, in den USA acht Wochen. Provinzpolitiker hatten lang massive Anreize, zu positive Daten zu melden: Befördert wurden sie, wenn das Wachstum ihrer Region stimmte.

3. Sind die Zahlen rundweg gefälscht und damit nicht zu gebrauchen?

Nein. Seit Chinas Entwicklung die Weltkonjunktur beeinflusst, sind die Augen vieler kritischer Analysten auf die Ergebnisse gerichtet. Die Behörde arbeitet auch mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der UNO zusammen, um die Qualität zu verbessern. Wahrscheinlich ist aber, dass die Zahlenjongleure Spielräume nutzen, um die Zeitreihen zu glätten und so eine besonders harmonische Entwicklung vorzutäuschen.

4. An welchen Schrauben können die Statistiker drehen?

Gesammelt werden nominelle Zahlen, die auch steigende oder sinkende Preise reflektierten. Daraus errechnet man das reale Wachstum. Dazu verwendet man in Peking nicht nur den Verbraucherpreisindex, sondern auch Produzenten- und Immobilienpreise. Im ersten Quartal etwa wuchs die Wirtschaft nominell um nur 5,8 Prozent. Die Verbraucherpreise stiegen um ein Prozent. Demnach hätte der reale Wachstumswert niedriger liegen müssen. Stattdessen werteten die Statistiker auf 7,0 Prozent auf – weil die Preise angeblich in Summe gesunken waren. Ein Ergebnis, das starke Zweifel weckte. Andere Stellschrauben sind für Beobachter weniger einsehbar. Fest steht: Die Datenbasis ist schmal, nur einige tausend Unternehmen liefern zu, der Rest wird geschätzt – was Spielraum lässt.

5. Was passiert, wenn der globale Konjunkturmotor China stottert?

Für Ruchir Sharma steht die Antwort fest: Dann droht die Krise. Der Schwellenländer-Chefanalyst bei Morgan Stanley rechnet für Bloomberg vor: Geht Chinas Rate weiter zurück, dann rutscht die weltweite auf unter zwei Prozent – ein Schwelle, ab der man von einer globalen Rezession spricht. In den vergangenen 50 Jahren ist das neunmal passiert. Immer waren es die USA, die den Rest der Welt hinunterzogen. Erstmals wäre es nun China. Der IWF sieht die zweitgrößte Wirtschaftsmacht für ein Viertel des Weltwachstums verantwortlich, Morgan Stanley gar für 38 Prozent.

6. Wie dramatisch ist ein langsameres Wachstum für China?

Wirtschaftlich betrachtet gar nicht. Zweistellige Wachstumsraten sind nicht auf Dauer möglich. Denn der prozentuelle Zuwachs muss ja jedes Mal auf ein massiv steigendes Volumen aufgeschlagen werden. So wächst die chinesische Wirtschaft in Prozent weit weniger dynamisch als noch 2006. Aber in absoluten Zahlen war das Wachstum im Vorjahr weit höher als damals: um 244 Mrd. Dollar. Zudem weiß die Führung, dass sie nicht mehr länger auf das Erfolgsmodell einer „globalen Werkbank“ setzen kann. Denn mit dem Wohlstand steigen die Löhne. Fabriken mit simpler Wertschöpfung wandern ab, etwa nach Vietnam. Deshalb steuert man hin zu mehr Konsum und innovativeren Produkten. Diese Reform kostet Wachstum, macht aber die Entwicklung nachhaltiger.

7. Warum fürchtet sich Peking dennoch so vor Rückschlägen?

Das diktatorische Regime hat nur eine Rechtfertigung: dass es wirtschaftlich für alle Bürger stetig stark aufwärts geht. Dafür nehmen diese politische Unfreiheit in Kauf – und auch eine größere Schere zwischen Reich und Arm, wie man sie von starken Wachstumsphasen (wie der industriellen Revolution) aus der Geschichte kennt. Bei nur schwachem Wachstum bleiben aber immer mehr Menschen zurück. Die Gefahr von sozialen Unruhen steigt, was dann auch das politische System bedroht. Deshalb ist es für die Partei so wichtig, dass die Chinesen ihrem Wachstumsversprechen glauben – ein Vertrauen, das nun zu bröckeln beginnt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2015)

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