"IS will verhindern, dass Zivilisten sein Gebiet verlassen"

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Der UN-Nothilfekoordinator für den Irak, Dominik Bartsch, berichtet von akuten Versorgungsengpässen in den Flüchtlingslagern. Auch die Hauptstadt Bagdad lässt nicht alle Vertriebenen hinein.

Sie sind in Erbil im Nordirak für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen tätig. Ist die humanitäre Lage ähnlich katastrophal wie in Syrien?

Wir haben im Irak seit vergangenem Jahr, seit dem Angriff von IS, eine humanitäre Situation, die sich immer weiter verschlimmert. Unterschiede zu Syrien gibt es, aber von den Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung ist es sicher vergleichbar. Mit dem Vormarsch des Islamischen Staates (IS) hat sich die Lage im Irak sehr zugespitzt und dazu geführt, dass mehr als drei Millionen Iraker in Vertreibung leben. Wir gehen davon aus, dass insgesamt ein Drittel der irakischen Bevölkerung humanitäre Unterstützung benötigt.


Die meisten von ihnen sind, im Gegensatz zu Syrern, nicht ins Ausland geflohen?

Nein, in erster Linie sind das Binnenflüchtlinge. Im Osten sind ganze Bevölkerungsgruppen gefangen, sie können nicht in Richtung Hauptstadt, weil sie dort nicht hineingelassen werden. Gleichzeitig will der IS verhindern, dass Zivilisten aus seinen Gebieten weggehen – und sie haben in letzter Zeit Dokumente konfisziert. Im Norden, in Kurdistan, haben wir gut eine Million IDPs (Intern Vertriebene), davon kommt ein Gutteil aus der Stadt Mossul und den Sinjar-Bergen, die im Sommer 2014 an den Islamischen Staat gefallen sind.


Wie ist die Versorgungslage?

Ein Großteil der Binnenvertriebenen lebt in Bauruinen oder ist bei Freunden und Verwandten untergekommen. Ungefähr zehn Prozent davon leben in Lagern. Da ist die Situation vergleichsweise besser als in Afrika, aber wir haben viele, die von direkter Hilfe ausgeschlossen sind. In vielen Lagern ist die Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr gewährleistet, in anderen gibt es große Schwierigkeiten mit der Wasserversorgung. Um Bagdad herum, wo die Vertriebenen versuchen, in die Stadt hineinzukommen, ist die Lage sehr prekär. Sie werden mehrere Tage an Checkpoints aufgehalten. Da hatten wir Kinder, die schlichtweg verdurstet sind, bei Temperaturen von 50 Grad im Schatten. Bis dato sind wir nicht sicher, ob wir bis Ende des Jahres die Grundversorgung aufrechterhalten können. Schulbildung für die Kinder ist da fast schon ein Luxusgut. Das ist auch der Grund, warum wir von der UN einen neuen Appell lanciert haben: Bis Ende des Jahres müssen wir 500 Millionen Dollar erhalten. Das ist natürlich schwierig, weil es weltweit fünf, sechs große Krisenherde gibt und viele Geberländer keine zusätzlichen Finanzmittel bereitstellen.


Wie schlimm ist die Situation in den Gebieten, die vom IS kontrolliert werden?

Gute Frage, denn zu diesen Gebieten haben wir keinen Zugang. Wir wissen nicht, wie es den Leuten dort geht. Es gibt vereinzelt Versuche, Hilfe dorthin zu bringen, aber letztendlich haben wir wenig direkte Informationen. Wir befinden uns momentan an einem Wendepunkt, denn der Konflikt mit dem IS wird nicht in den nächsten Monaten gelöst werden. Wir müssen uns also mittelfristig überlegen, wie wir die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten können, und somit auch mithelfen, dass Vertriebene nicht die irakische Grenze überschreiten, um in einem anderen Land Sicherheit zu finden.


Wie soll das bewerkstelligt werden? Gerade in einem Land wie dem Irak, wo nicht nur der IS wütet, sondern auch Schiiten und Sunniten einander erbittert bekämpfen . . .

Die Lage muss stabilisiert werden, und dazu gehört auch, dass Binnenvertriebene tatsächlich Schutz finden, keinen Repressalien ausgesetzt sind und ihr Leben – zumindest temporär – wieder aufbauen können. Die Minderheiten müssen geschützt werden: Turkmenen und Jesiden sind enormem Druck ausgesetzt. Wir können doch nicht akzeptieren, dass die einzige Lösung für diese Gruppen eine Zukunft im Ausland sein soll. Der Irak ist ein pluralistisches Land, wir dürfen nicht zulassen, dass es völlig auseinanderbricht. Die Ironie ist doch, dass wir jeden Tag in den Medien von den schrecklichen Taten der Terrorgruppe IS hören, uns aber fast gleichgültig abwenden, wenn es um die Opfer des IS geht.

Steckbrief

Dominik Bartsch ist stellvertretender UN-Nothilfekoordinator für den Irak. Er wirkt im nordirakischen Erbil. Zuvor war Bartsch im Sudan und in Kenia für die Vereinten Nationen tätig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2015)

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