IS: Vom Leben im Terrorstaat

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Der Alltag im sogenannten Islamischen Staat ist bis ins letzte Detail reguliert. Nur so kann sich das "Kalifat" Gehorsam sichern.

Zwischen den blutigen und abartigen Propagandafilmen, zwischen den brachialen Parolen und wilden Kampfansagen gegen den Westen, zwischen Gräueltaten und Berichten über versklavte Frauen und Kinder – zwischen all diesen Nachrichten, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) über verschiedene Kanäle in die Welt gelangen, herrscht unter den wachsamen Augen der Jihadisten irgendwo ein Alltag. Essen, Trinken, Schlafen, Schule, Krankenhäuser und Behördengänge: Wie das Leben in dem vom IS ausgerufenen „Kalifat“ abläuft, darüber gibt es nur einzelne Augenzeugenberichte, ganz wenige Reportagen von Journalisten, denen die IS-Propagandaabteilung die Einreise erlaubt hat, und eine Fülle an Mutmaßungen.

Der IS ist mittlerweile weit mehr als nur eine Terrormiliz, die so wie einst al-Qaida im Irak aus dem Untergrund Attentate verübt. Die Extremisten herrschen heute über ihr eigenes staatliches Gebilde, das große Teile Syriens und des Irak umfasst, einschließlich der Millionenstadt Mossul. Dieser Terrorstaat besitzt nicht nur seine eigene Armee, Polizei und Gerichte, sondern hat auch ein Verwaltungssystem aufgebaut. Die Untertanen müssen Steuern zahlen – Geld, mit dem auch die IS-Kriegskasse gefüllt wird.

„Ich fühle mich wie ein Fremder in meiner eigenen Stadt“, sagt einer der unfreiwilligen Bürger des neuen „Kalifats“, der in der nordsyrischen Stadt Raqqa lebt, in einem Video des „Wall Street Journal“. „Die Menschen haben eine dicke Haut bekommen, sie haben keine Gefühle mehr. Du schaust dir eine Exekution an, drehst dich um und gehst wieder. Es ist so normal geworden.“ Raqqa, früher ein Hort weitgehend liberaler Bewohner, wurde vom IS zu seiner „Hauptstadt“ ausgerufen. Die Gebäude der „Behörden“ sind hier, wie auch in anderen von den Jihadisten kontrollierten Gebieten, schwarz gestrichen, in den Straßen wehen die schwarzen IS-Flaggen.

In Propagandavideos lassen die Jihadisten Sequenzen aus dem Alltag in der Stadt zeigen, freilich beschönigt und begradigt. Zu sehen sind lachende Kinder, die auf einem Motorroller mitfahren dürfen, ein Polizist, der den mit Waren gut gefüllten Gemüsemarkt schließen lässt, um die Männer zum Freitagsgebet einzusammeln, oder ein Mann mit Kalaschnikow, der ein Kind im Rollstuhl durch einen Vergnügungspark schiebt. Selbst einen Pressebeauftragten gibt es in Raqqa. Auf Videos zeigt er sich gern mit Ray-Ban-Brille und erzählt davon, dass seine Mission für das „Kalifat“ wichtiger sei, als sich um seine Familie zu kümmern.

Von der anderen Seite des Alltags berichten die Aktivisten der Gruppe „Raqqa is being slaughtered silently“ (Raqqa wird leise geschlachtet): Sie filmen heimlich in der Stadt, fotografieren und stellen ihre Berichte ins Netz. Damit bringen sie sich in höchste Lebensgefahr. Sie berichten von Versorgungsengpässen in den Spitälern, und davon, dass Ärzte Bluttransfusionen ohne Tests durchführen würden. Nicht zuletzt deswegen seien jüngst Aids-Fälle in Raqqa aufgetaucht. Es fehlt an Medikamenten. „Der IS regiert Raqqa wie einen Polizeistaat“, erzählt ein Aktivist. An so gut wie jeder Straßenecke steht die Sittenpolizei, die unter anderem das Zusammentreffen – oder besser: Nichtzusammentreffen – von Mann und Frau in den Straßen regelt.

Gefürchtete Fraueneinheit

In den Videos, in denen öffentlich Menschen hingerichtet werden, sind Frauen so gut wie nie zu sehen. Ihr schwarzer Niqab muss aus festem, undurchsichtigem Stoff sein, auch das wird von der Sittenpolizei kontrolliert. In den Schaufenstern der Kleidergeschäfte wird das Ausstellen von Frauenkleidern – insbesondere „freizügiger“ Sachen wie Unterwäsche – nicht geduldet.

Besonders gefürchtet ist die al-Khansaa-Brigade – eine Polizeieinheit, die aus Frauen besteht. Ihre Aufgabe ist nicht nur, andere Frauen zu kontrollieren: Weil sie alle komplett verhüllt sind, können auch die Männer in den Straßen nicht erkennen, ob es sich nur um eine Nachbarin oder eine Polizistin des Terrorstaats handelt. Junge Burschen wiederum können etwas Geld verdienen, wenn sie Personen denunzieren, die schlecht über den IS reden. Dazu kommen ständige, willkürliche Kontrollen. „Ich ging gerade die Straße hinunter, als mich IS-Kämpfer nach dem Weg zur nächsten Moschee fragten“, berichtet ein Iraker namens Bilal Abdullah, der mittlerweile fliehen konnte, der Nachrichtenagentur AP. Als der Mann nicht den Namen der Moschee nennen konnte, begannen die IS-Kämpfer, ihn zu verhören.

„Reueausweis“ für Englischlehrer

Schließlich fragten sie ihn nach seinem „Reueausweis“. Mit Entsetzen stellte Abdullah fest, dass er ihn nicht dabei hatte und schickte rasch seinen Sohn nach Hause, um das Papier zu holen. Abdullah war verpflichtet. den Ausweis stets bei sich zu tragen, denn er war früher Polizist. Um das Papier zu erhalten, muss man für die „Verfehlungen“ der Vergangenheit Abbitte leisten und den neuen IS-Herren die Treue schwören. Nicht nur einstige Beamte müssen sich dem Verfahren unterziehen, sondern auch Schneider von Damenbekleidung und Englischlehrer, weil sie eine „verbotene Sprache“ unterrichtet haben. Wer sich weigert, riskiert, getötet zu werden.

Die Extremisten bauen bei der Verwaltung ihres neuen Reichs auf bereits bestehenden Strukturen und lokalen Bündnissen auf. Im Irak nahmen sie Mossul und andere Städte keineswegs im Alleingang ein: Sie dockten an einen Aufstand unzufriedener sunnitischer Stämme und Anhänger des gestürzten Diktators Saddam Hussein an. Anfangs kontrollierte noch eine breite Koalition von Aufständischen Mossul. Später setzte sich jedoch der IS als stärkste Gruppe durch.

Spezialisten aus Saddam-Zeit

Die neue Baath-Partei, die aus den Trümmern der einstigen Massenbewegung Saddam Husseins entstanden ist und zunächst am Umsturz in Mossul beteiligt war, wurde vom IS mit Gewalt aus dem Feld geschlagen. Doch zugleich haben sich auch Ex-Saddam-Leute dem IS angeschlossen. Offiziere der früheren irakischen Armee und des Geheimdiensts sitzen in dem Machtnetzwerk des IS-„Kalifats“ an wichtigen Positionen. Sie lassen dabei ihre Erfahrungen mit dem Führen einer konventionellen Streitmacht und dem Aufbau eines staatlichen Unterdrückungsapparats einfließen. Einige dieser Leute kennt IS-Kalif Abu Bakr al-Baghdadi bereits aus der Zeit, als er in dem US-Gefangenenlager Camp Bucca inhaftiert war. In dem Lager waren in den 2000er-Jahren Kleinkriminelle genauso eingesperrt wie ehemalige Regimefunktionäre und Jihadisten. Das Kommando unter den Gefangenen übernahmen rasch die jihadistischen Ideologen. Sie radikalisierten dabei auch Mithäftlinge, die mit dem extremen Gedankengut bisher nicht viel hatten anfangen können.

Nach der Einnahme von Mossul im Juni 2014 stellten die Jihadisten auch wieder lokale Beamte ein, die nach dem Sturz des Saddam-Regimes 2003 ihre Posten verloren hatten. Sie haben jetzt wieder Jobs und tragen – so wie früher – die Verantwortung für die Verwaltung der Millionenstadt. Der IS regiert nicht nur mit unglaublicher Grausamkeit, er versucht zugleich auch, den Bürgern so etwas wie öffentliche Sicherheit und funktionierende Strukturen zu bieten. Im Gegenzug fordert er absoluten Gehorsam sowie das Entrichten aller nur erdenklichen Steuern und Abgaben. Die IS-Beamten haben eine Unmenge neuer Gesetze erlassen – von Bekleidungsvorschriften über das Verbot von Alkohol, Nikotin und Musik bis hin zur Regulierung der Müllentsorgung. Zuwiderhandeln wird drakonisch bestraft. Dieses enge Gesetzeskorsett dient dem IS nicht nur dazu, sein Weltbild umzusetzen und sein „Kalifat“ zu verwalten. Es dient auch dazu, die Untertanen zu disziplinieren und einzuschüchtern. Dass der Alltag in Mossul eine Art Verwaltungsstruktur hat, davon berichtet auch der Autor Jürgen Todenhöfer, der einige Tage in der IS-Stadt verbracht hat.

Auch im nordsyrischen Tal Abyad, das vor zwei Monaten von kurdischen Milizen befreit worden ist, sind noch die Spuren einer professionellen IS-Verwaltung zu finden: In einem schwarz angestrichenen „Polizeigebäude“ liegen stapelweise vorgedruckte Formulare für das Melden kleinkrimineller Aktivitäten herum – mit der schwarzen IS-Fahne oben rechts. Der IS druckt seine eigene Unterlagen, vorbei die Zeiten, als bereits bestehende Formulare verwendet, das Wort Syrien durchgestrichen und durch Islamischer Staat ergänzt wurden.

Das alles täuscht nicht darüber hinweg, dass die IS-Herrschaft auf Angst beruht. Die Leichen der Hingerichteten werden lange öffentlich ausgestellt. Kleinen Burschen hingegen, die rekrutiert werden, wird die Angst vor Tod und Kampf ausgetrieben: Im Volksschulalter nehmen sie an Manövern teil, die ihnen beibringen sollen, wie sie heil durch unter Feuer liegendes Gebiet kommen. Nicht selten tragen die Kinder dabei echte Waffen. Darüber hinaus gibt es die religiöse Indoktrinierung in Koranschulen. „Diese Kinder“, sagt ein Aktivist, „sind das Pulverfass des ,Kalifats‘.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.08.2015)

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