Lagerkoller und Gangs: Gewalt in Flüchtlingsunterkünften steigt

Provisorische Erstaufnahmeeinrichtung fuer Fluechtlinge in der Turnhalle der Reischlesche Wirtschaft
Provisorische Erstaufnahmeeinrichtung fuer Fluechtlinge in der Turnhalle der Reischlesche Wirtschaft(c) imago/epd (imago stock&people)
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Der anhaltende Flüchtlingsstrom nach Deutschland und überfüllte Einrichtungen sorgen in jüngster Zeit immer wieder für Schlägereien unter Asylwerbern.

Berlin. Sie fliehen vor Gewalt und entkommen ihr dennoch nicht. In Deutschland steigt nicht nur die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, die Konflikte zwischen Asylwerbern nehmen in jüngster Zeit ebenfalls zu. Selbst die Regierung in Berlin zeigte sich am gestrigen Dienstag alarmiert: „Wir beobachten mit erheblicher Sorge, dass es Gewalttätigkeiten gibt“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums.

Anlass dafür ist eine Massenschlägerei in einer Notunterkunft für Flüchtlinge in Kassel am vergangenen Wochenende. Auslöser dürfte ein Streit bei der Essensausgabe gewesen sein. Gut ein Dutzend Flüchtlinge und drei Polizisten wurden verletzt, einen Teil der Flüchtlinge brachte man daraufhin in eine andere Unterkunft. „Wenn da 4000 Menschen in einem Heim sind, das eigentlich nur 750 Plätze hat, dann führt diese Enge zu Aggressionen, wo selbst eine Winzigkeit wie der Gang zur Toilette zu einer Handgreiflichkeit führt“, sagt der Vize-Chef der Polizeigewerkschaft (Gdp) Jörg Radek gegenüber der „Welt“. Die konkurrierende Deutsche Polizeigewerkschaft wiederum ortet „knallharte kriminelle Strukturen“ in einigen Flüchtlingsunterkünften. Zudem würden sich Gruppen nach Ethnien, Religion oder Clanstrukturen zusammenschließen, wie es heißt. Daher tauchte jüngst immer wieder die Forderung nach der getrennten Unterbringung von Asylwerbern auf. Der Polizeigewerkschaft zufolge benötigten vor allem Christen besonderen Schutz, da sie vielfach bedrängt würden. Akte der Gewalt gebe es aber auch gegenüber Frauen und allein reisenden Kindern und Jugendlichen.

Vergewaltigungen in Hessen

Im August machte etwa ein offener Brief von hessischen Landesverbänden zur Situation in Erstaufnahmeeinrichtungen die Runde. Darin berichteten die Verbände von Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen auf Frauen und Kinder. Brigitte Ott von Pro Familia, die diesen Bref ebenfalls unterzeichnete, teilte auf Anfrage mit, dass die hessische Landesregierung bereits konkrete Maßnahmen für alle Erstaufnahmeeinrichtungen in die Wege geleitet hätte. Dazu zählt etwa die getrennte Unterbringung allein reisender Frauen und Kindern sowie Schulungsmaßnahmen für Mitarbeiter.

Der Freistaat Thüringen versucht bereits, Flüchtlinge auf Basis ihrer Herkunft zu separieren. „Wir achten auf eine konfliktsensible Unterbringung und versuchen, Menschen aus unterschiedlichen Ländern auf verschiedene Stockwerke oder eigene Unterkünfte zu verteilen“, sagt Thüringens Justiz- und Migrationsminister Dieter Lauinger (Grüne). Das Vorgehen sei in der derzeitigen Krisensituation zwar nur eingeschränkt möglich, „wir wollen es aber ausbauen, sobald der Zuzug wieder geordnet abläuft.“

Das rot-rot-grüne Bundesland hat die Maßnahmen nach Ausschreitungen in einer Unterkunft in Suhl auf den Weg gebracht. Damals gab es rund 16 Verletzte, inzwischen wurden 15 Verdächtige festgenommen. „Wer hier gewalttätig wird und unsere Grundrechte nicht anerkennt, muss die ganze Härte des Rechtsstaats zu spüren bekommen“, sagt der religionspolitische Sprecher der Union, Franz Josef Jung.

Der Rat für Migration (ein Zusammenschluss von Wissenschaftlern) mahnt angesichts der Vorschläge nach ethnischen oder religiösen Aufteilungen zur Vorsicht. Nicht zuletzt, da der Grund von Tumulten oft völlig unklar sei. Mitglied Jochen Oltmer macht vor allem die schwierige Situation in den Erstaufnahmeeinrichtungen und unklare Zukunftsaussichten der Menschen für die Entladung von Gewalt verantwortlich. Der Bund sieht sich in dieser Frage nicht zu einer Äußerung berufen. Details lägen in der Zuständigkeit der Länder.

Unterdessen verabschiedete die Regierung in Berlin ein neues Gesetzespaket zur Asylpolitik. Kern dessen sind die Kostenverteilung für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen sowie eine Beschleunigung der Asylverfahren. Bis Ende August wurden in Deutschland rund 257.000 Asylanträge gestellt. Eine Steigerung von 122 Prozent. Allein seit Anfang September kamen in Bayern knapp 170.000 Menschen an. Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) fordert daher Maßnahmen zur Begrenzung der Zuwanderung. Die Zahlen seien ein Beleg dafür, dass die „Angelegenheit vollständig aus den Fugen geraten ist“. (nst)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.09.2015)

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