Rat und Parlament: Zwei ziemlich beste Freunde

Institutionen I. Minister oder Europaabgeordnete – wer hat die größere Legitimation, Europapolitik zu gestalten?

Brüssel. Eigentlich dürfte zwischen die europäischen Institutionen kein sprichwörtliches Blatt Löschpapier passen – denn, geht es nach dem vertraglich fixierten Betriebssystem der EU, dann haben Rat, Europaparlament und EU-Kommission unterschiedliche, einander komplementierende Aufgaben. Doch tatsächlich ist der Sachverhalt komplexer als auf den Seiten der konsolidierten europäischen Verträge. In der Realität haben die Institutionen nämlich nicht immer dieselben Interessen – und vor allem zwischen Rat und Europaparlament hat sich im Lauf der vergangenen Jahre ein Graben aufgetan. Der Frontverlauf lässt sich überspitzt folgendermaßen beschreiben: Auf der einen Seite die Verfechter eines vereinten Europas, die im Gremium der Mitgliedstaaten einen längst überflüssig gewordenen Wurmfortsatz der Europapolitik sehen, auf der anderen Seite die Verteidiger nationaler Souveränität, die das Hohe Haus in Straßburg für einen Hort verträumter Idealisten halten.

Der Vorwurf der Verträumtheit lässt sich leicht ausräumen, denn mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 wurde das Europaparlament als jenes Organ, das EU-weite demokratische Legitimation genießt, aufgewertet – in vielen Themenbereichen entscheiden Europaabgeordnete nun gleichberechtigt mit den Fachgremien der Mitgliedstaaten. Diese Aufwertung hat allerdings auch Ansprüche geweckt – was das Hickhack um die Bestellung von Jean-Claude Juncker zum Kommissionspräsidenten im Vorjahr verdeutlicht. Gemäß EU-Recht schlägt der Europäische Rat (also die Staats- und Regierungschefs der EU) den Kandidaten für den Posten vor, wobei das Europaparlament dem Vorschlag zustimmen muss. Im Vorlauf zur Europawahl 2014 war es dem Parlamentspräsidenten Martin Schulz gelungen, die Parteienfamilien auf Spitzenkandidaten einzustimmen – Schulz selbst trat für die europäischen Sozialdemokraten an, die EVP schickte den luxemburgischen Ex-Premier ins Rennen. Doch als Juncker die Wahl für sich entschieden hatte, wollte Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grande Dame der EVP, von ihrem einstigen Spitzenkandidaten nichts mehr wissen und sprach stattdessen von einem „breiten Personentableau“, das im Rat zur Auswahl stünde. Erst der öffentliche Druck in Deutschland zwang Merkel zum Umdenken – und aus der Sicht der Europaparlamentarier war damit ein Präzedenzfall geschaffen: Fortan soll demnach der Europawahlsieger quasi-automatisch zum Kommissionspräsidenten gekürt werden, ob dies den Mitgliedstaaten passt oder nicht.

Weg mit dem vernichtenden Erlöser

Hinter diesem etwas kleinlich anmutenden Disput steht die größere, in die politische Philosophie hineingreifende Frage nach der Gewaltenteilung innerhalb der Europäischen Union. In einem konsequent zu Ende gedachten Konzept einer politischen Union in Europa würde die Kommission die Rolle einer europäischen Regierung und somit die Exekutivgewalt übernehmen und das Europaparlament zum einzigen Organ der Legislative aufrücken. Einflussreiche Parlamentarier wie etwa der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber (CSU) halten die Brüsseler Behörde für prädestiniert dafür (siehe rechts). In diesem Setting hätte der Rat keine nennenswerte politische Rolle mehr zu spielen und könnte entweder zu einer Länderkammer (analog zum österreichischen Bundesrat) degradiert oder gänzlich abgeschafft werden – wie dies etwa der Autor Robert Menasse in seiner 2012 erschienenen Streitschrift „Der Europäische Landbote“ fordert: Der Rat sei demnach ein „vernichtender Erlöser“ und „müsse weg!“, und zwar ersatzlos. Jegliche Aufwertung des Gremiums der Mitgliedstaaten käme für Menasse einem „Thermidor der EU“ gleich – also einer Abkehr von den revolutionären Überzeugungen der europäischen Gründerväter, deren erklärtes Ziel die „immer engere Union der Völker Europas“ war.

An Großbritannien vorbei

Doch selbst diese an sich unverfänglich klingende Präambel der EU-Verträge ist alles andere als unumstritten. Der britische Premier David Cameron etwa setzt sich dafür ein, die Formulierung entweder ganz zu streichen oder dahingehend zu modifizieren, dass sie nicht mehr für Großbritannien gilt. Cameron und Co. argumentieren, dass der Staat (bzw. die nationalen Parlamente) der einzige Ort sei, an dem demokratische Legitimation hergestellt werden könne – das Europaparlament als transnationale Organisation ist demnach zu abstrakt, um diese Aufgabe zu erfüllen.

Dass ausgerechnet die (tendenziell eher europaskeptischen) Briten die Wortführer der Skeptiker sind, kommt nicht von ungefähr, wie ein Rückblick auf die Europawahl 2014 belegt. Aufgrund der Tatsache, dass die regierenden Tories auf europäischer Ebene Mitglied der Parteienfamilie der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) sind, hatten sie keinen Spitzenkandidaten im Rennen – denn die ECR lehnte das Konzept des Europaparlaments ab. Das britische Argument, wonach Juncker nicht vom britischen Wahlvolk legitimiert worden sei, lässt sich somit nicht so einfach vom Tisch wischen. Worauf sich erwidern ließe, dass niemand die Briten davon abgehalten habe, einen eigenen Spitzenkandidaten ins Rennen zu schicken. Sie könnten sich stärker auf europäischer Ebene einbringen – wenn sie nur wollten.

Der Weg ist das Ziel

Abseits der schnöden Realpolitik stellt sich die Frage, inwieweit die Überwindung des Nationalen – also die Aufwertung des Europaparlaments auf Kosten des Rats – tatsächlich im Interesse des Souveräns ist. Sozialforscher sprechen diesbezüglich eine relativ deutliche Sprache. Der Staat sei die am besten geeignete Organisationsstruktur, um Kosens etwa in Steuerfragen herzustellen, schreibt beispielsweise der Entwicklungsökonom Paul Collier in seinem 2013 erschienenen Buch „Exodus. Immigration and Multiculturalism in the 21st Century“. Eine Europäisierung des gesamten politischen Prozesses würde die Bürger überfordern – und das selbst ohne die Berücksichtigung der Tatsache, dass in der EU in 24 Amtssprachen gearbeitet wird. Was der EU fehlt, ist demnach das Wir-Gefühl ihrer Bürger.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Nur dann, wenn man den Versuch unternimmt, sich von der alten Dichotomie Staat versus Europa – bzw. Rat versus Parlament – zu lösen Europapolitik neu zu denken. Einen Versuch hat der niederländische Philosoph und Historiker Luuk van Middelaar in seinem Buch „The Passage to Europe“ unternommen, das 2012 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Van Middelaar vergleicht die EU mit dem florentinischen Ponte Vecchio – einer Brücke, die mit der Zeit zu einem eigenen Universum wurde. Demnach wären nicht die Vereinten Staaten von Europa das eigentliche Ziel des europäischen Einigungsprozesses, sondern der Weg dorthin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Europa

Ratspräsidentschaft: Nur noch ein Schatten früherer Macht

Halbjähriger Vorsitz. Einst dirigierte jedes halbe Jahr ein anderes Mitgliedsland die Geschicke des Rats. Mittlerweile werden die wichtigsten Treffen von gewählten Vorsitzenden geleitet. Der Ratspräsidentschaft bleibt nur noch der Rest, allerdings auch zu deutlich geringeren Kosten.
Europa

„Politische“ EU-Kommission mit mehr Gespür

Institutionen II. Die Brüsseler Behörde zeigt unter Jean-Claude Juncker klare Kanten – oft in Kooperation mit dem Rat.
Europa

Die Botschafter bereiten alle Treffen auf Ministerebene vor

Ausschuss der Ständigen Vertreter. Im Fachjargon heißen die wöchentlichen Ausschüsse auf Botschafterebene Coreper. Dort werden Positionen diskutiert, bevor die Ressortchefs selbst nach Brüssel reisen. Die Zusammenarbeit der Diplomaten funktioniert oft besser als jene der Politiker.
Europa

Lösung der Flüchtlingskrise als Daueraufgabe

Rat der Innen- und Justizminister. Die europäische Migrations- und Asylpolitik steht im Mittelpunkt der regelmäßigen (Sonder-)Treffen.
Europa

Länder der Währungsunion beraten informell

Euro-Gruppe. Das Gremium der Finanzminister der Eurozone geriet in den vergangenen Jahren öfter ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.