Analyse: Triumph der Angst in der Türkei

People wave flags and hold a portrait of Turkish President Erdogan as they wait for the arrival of Prime Minister Davutoglu in Ankara
People wave flags and hold a portrait of Turkish President Erdogan as they wait for the arrival of Prime Minister Davutoglu in Ankara(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Die regierende AKP holte die Absolute bei der Parlamentswahl, weil sie sich als Stabilitätsanker gab. Nun strebt Erdoğan ein Präsidialsystem an.

Istanbul. Am Tag nach dem Wahlerfolg seiner Partei AKP setzte Recep Tayyip Erdoğan ein Zeichen: Nach dem Morgengebet besuchte der türkische Präsident am Montag das Mausoleum des Eyüp Sultan in Istanbul, eine heilige Stätte im Islam – und der Ort, an dem zur osmanischen Zeit die neuen Sultane mit dem Schwert des Propheten Mohammed gegürtet wurden. Die Geste unterstrich den Machtanspruch der AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die bei der Wahl fast jede zweite Stimme erhalten hatte.

Der „Wille der Nation“ habe sich bei der Wahl für die Stabilität entschieden, sagte Erdoğan nach seinem Besuch. Die Welt solle dies respektieren, fügte er in Anspielung auf kritische Kommentare ausländischer Medien hinzu. Der 61-jährige Staatspräsident und AKP-Gründer hatte allen Grund, Selbstvertrauen zu demonstrieren. Mit 49,3 Prozent der Wählerstimmen und 315 von 550 Abgeordneten im neuen Parlament hat die AKP ihre beherrschende Stellung im Land wiederhergestellt. Bei Auslandstürken in Österreich kam die AKP sogar auf 70 Prozent.

Die Niederlage vom Juni, als sie auf rund 41 Prozent abgesackt war, wurde überwunden – am Sonntag erhielt die AKP fast so viele Stimmen wie beim Rekordergebnis von 2011, als sie auf 49,9 Prozent gekommen war.

Harte Linie in der Kurdenfrage

(C) DiePresse

Beobachter waren sich einig, dass der Erfolg nicht nur an Erdoğans Taktik nach der Juniwahl lag, als er eine harte Linie in der Kurdenpolitik einschlug, um nationalistische Wähler für die AKP zu gewinnen. Die PKK-Kurdenrebellen spielten Erdoğan in die Hände, indem sie Ende Juli mit neuen Gewalttaten gegen die Sicherheitsbehörden begannen, was viele Wähler der legalen Kurdenpartei HDP abschreckte. Der Terror der PKK und der Jihadistenmiliz Islamischer Staat hätte bei den Wählern die Angst vor Gewalt und Chaos geschürt und so die AKP gestärkt, kommentierte die Zeitung „Hürriyet“.

Auch die Nationalistenpartei MHP half der AKP. Mit einer Totalverweigerung nach der Juniwahl verhinderte MHP-Chef Devlet Bahçeli die damals mögliche Bildung einer Koalitionsregierung. Bahçelis Nein frustrierte viele MHP-Anhänger. Insgesamt steigerte die AKP die Zahl ihrer Wähler zwischen Juni und November um 4,5 Millionen.

Einige Kritiker der AKP sehen keine Chance mehr, die Verhältnisse im Land zu ändern. Der Dichter Yılmaz Odabaşı teilte am Montag mit, er wandere nach Frankreich aus. Andere AKP-Gegner gehen offenbar in die innere Emigration. Der Pianist und Komponist Fazıl Say erklärte am Montag, es habe keinen Zweck, die Türken von einem anderen Kurs zu überzeugen. „Wir können nicht jemanden verändern, der sich nicht verändern will.“

Noch rücksichtsloser?

Der Akademiker und Erdoğan-Kritiker Baskın Oran sagte in der Zeitung „Agos“ voraus, Erdoğan und die Regierung würden ab sofort „noch rücksichtsloser“ auftreten. Einige AKP-Anhänger fordern schon die Beschlagnahmung weiterer kritischer Medien. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu erklärte in seiner Siegesrede zwar, er werde Politik für alle Bürger machen. Doch ähnliche Versprechen hatte auch schon Erdoğan nach seinen eigenen Wahlsiegen als AKP-Chef gemacht – und anschließend die Polarisierung im Land weiter vorangetrieben.

Schon bald wird sich zeigen, ob Davutoğlus Zusagen mehr wert sind. Nach dem AKP-Wahlsieg gewinnt nun die Debatte über Erdoğans Ziel eines Präsidialsystems wieder an Schwung. Schließlich legen die knapp 50 Prozent für die AKP vom Sonntag nahe, dass die Partei ein Referendum zum Thema Präsidialdemokratie gewinnen könnte. Im Parlament braucht die AKP für die Entscheidung für eine Volksabstimmung eine Dreifünftelmehrheit, mindestens 330 Stimmen, also mehr, als sie selbst zur Verfügung hat. In seiner Siegesrede ging Davutoğlu deshalb daran, die Opposition zu umwerben. Er rief die anderen Parteien im Parlament auf, zusammen mit der AKP eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Kleinlaute Töne aus Brüssel

Die EU reagierte eher kleinlaut auf den Wahlsieg Erdoğans und lobte die hohe Wahlbeteiligung. Dies untermauere, dass das türkische Volk die demokratischen Prozesse unterstütze, erklärten die Außenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Kommissar Johannes Hahn mit. Sie brauchen die Türkei als Schleusenwärter in der Flüchtlingskrise.

Die AKP-Regierung dürfte indes ab sofort auch in der Außenpolitik selbstbewusster auftreten. Mit ihrer breiten Mehrheit im Parlament sei die Regierung zu neuen Reformen im EU-Beitrittsprozess in der Lage, verlautete aus Regierungskreisen. Allerdings erwarte Ankara von der EU einen „ehrlichen, sinnvollen Dialog“. Die Verhandlungen zwischen der Türkei und Brüssel über Fortschritte im türkischen EU-Prozess, über die Visumfreiheit für türkische Reisende und über Anstrengungen der Türkei zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms nach Europa könnten turbulent werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2015)

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