Ende des türkischen Stillhalteabkommens mit IS

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Nach dem Anschlag von Istanbul verstärkt die türkische Regierung ihren Kampf gegen die Terrormiliz IS. Doch Kritiker werfen Erdoğan vor, die Jihadisten im Zuge seiner verfehlten Syrien-Strategie allzu lange geschont zu haben.

Istanbul. Als Sibel Satiroğlu ein klickendes Geräusch hörte, schaute sie sich die Reisegruppe vor ihr genau an. Sie bemerkte einen jungen Mann, der sich zu der Gruppe auf dem Hippodrom vor der Blauen Moschee gesellt hatte und der so ganz anders aussah als die deutschen Besucher und die anderen zwei Dutzend Ausländer um ihn herum. Die Istanbuler Fremdenführerin verstand sofort, was das bedeutete. „Lauft weg“, rief sie auf Deutsch – und rettete damit wohl mehreren Menschen das Leben.

Das klickende Geräusch, das Satiroğlu hörte, war die Entsicherung des Bombengürtels am Körper eines 28-jährigen Syrers, der am Dienstagmorgen als Selbstmordattentäter des Islamischen Staates (IS) zehn deutsche Touristen und sich selbst tötete. Die Fremdenführerin erlitt Verletzungen an den Beinen und einen Hörsturz, wie die Zeitung „Hürriyet“ meldete. Während Satiroğlu und die anderen Verletzten weiter behandelt werden, fragen Beobachter nach den Hintergründen des Anschlags. Warum sollte der IS ein Land angreifen, das für die Gruppe von entscheidender Bedeutung ist? Die Türkei mit ihrer 900 Kilometer langen Grenze zu Syrien ist als Nachschubraum für den IS nicht zu ersetzen; die Jihadisten, die in ihrem Machtbereich nicht weit von den türkischen Grenzen in Syrien und dem Irak eine Schreckensherrschaft errichtet haben, ließen den Nachbarn im Norden lange in Ruhe. Umgekehrt zögerte die Türkei fast ein Jahr, bevor sie sich letzten Sommer dem internationalen Kampf gegen den IS anschloss. Kritiker werfen Ankara vor, die Islamisten als Verbündete im Krieg gegen den syrischen Präsidenten, Bashar al-Assad, und bei Bemühungen zur Begrenzung des Machtbereichs der syrischen Kurden zu betrachten. Die Regierung weist dies zurück, doch kamen von westlichen Verbündeten und der Opposition immer wieder Vorwürfe eines Stillhalteabkommens mit den Extremisten.

Damit ist es vorbei. Schon seit einiger Zeit gibt es Anzeichen für eine energischere Politik der Türkei gegenüber dem IS. Nur einen Tag vor dem Istanbuler Anschlag meldete die regierungstreue Zeitung „Yeni Şafak“, Panzer und Artillerie hätten von der türkischen Seite der syrischen Grenze den Vormarsch von Rebellen unterstützt, die auf dem Weg in die vom IS gehaltene Stadt Jarablus am Euphrat seien. Seit Wochen gehen Sicherheitskräfte mit Festnahmewellen gegen IS-Netzwerke vor. Zusammen mit den USA bemüht sich die Türkei, die Grenze zu Syrien für IS-Kämpfer undurchlässiger zu machen. Gleichzeitig fordert der IS die Türkei auf türkischem Boden heraus, nicht erst seit Dienstag. Der Tod von mehr als 130 Menschen bei IS-Anschlägen im vergangenen Jahr und Morde an IS-kritischen syrischen Journalisten in türkischen Städten sprechen eine deutliche Sprache. Innenminister Efkan Ala sagte, in der Woche vor dem Istanbuler Anschlag seien 220 mutmaßliche IS-Anhänger festgenommen worden.

Nach dem Anschlag von Istanbul hat Premier Ahmet Davutoğlu keine andere Wahl, als weiter mit Härte gegen die Jihadisten vorzugehen. In den Stunden nach dem Anschlag nahm die türkische Polizei bei Razzien in mehreren türkischen Städten fast 60 mutmaßliche IS-Anhänger fest.

Verfehlte Syrien-Politik

Trotz des Kurswechsels fragen Kritiker, wie es zu der derzeit so gefährlichen Lage kommen konnte. Für sie steht fest, dass eine verfehlte Syrien-Politik Ankaras das eigentliche Grundübel ist. Jene, die zu Beginn des Syrien-Konfliktes im Jahr 2011 noch davon träumten, innerhalb weniger Monate in den Moscheen von Damaskus beten zu können, seien nun nicht einmal mehr in der Lage, ohne Gefahr für Leib und Leben die Blaue Moschee in Istanbul zu besuchen, schrieb Ergun Babahan in der Zeitung „Özgür Düşünce“.

Sein Kollege Mehmet Yilmaz von der „Hürriyet“ stellt zudem die Flüchtlingspolitik Ankaras infrage. Niemand wisse, wie viele Jihadisten unter den rund zwei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei seien. „Es ist, als säßen wir auf einer Bombe, die jeden Moment losgehen kann.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.01.2016)

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