Irak: Gefangen in der Hölle von Falluja

Vor allem Frauen und Kinder fliehen aus Falluja. Die Terrormiliz IS hält Männer mit Gewalt in der Stadt fest.
Vor allem Frauen und Kinder fliehen aus Falluja. Die Terrormiliz IS hält Männer mit Gewalt in der Stadt fest. (c) REUTERS (THAIER AL-SUDANI)
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Nur wenige Bewohner schaffen es, aus der belagerten irakischen Stadt zu entkommen. Die Menschen leiden an Hunger, Durst und der Gewalt der Islamisten. Flucht ist lebensgefährlich.

Falluja ist zum grausamen Gefängnis geworden: Wer aus der zentralirakischen Stadt flieht, riskiert, von der radikalislamischen Miliz IS erschossen zu werden, die sich dort verschanzt hat. Wer bleibt, muss verrottete Datteln essen und verschmutztes Euphrat-Wasser trinken. Und hoffen, die Kämpfe zu überleben.

Um die Kontrolle der Stadt wird weiterhin heftig gekämpft: Allerdings hat sich der Vormarsch der irakischen Armee in den letzten Tagen stark verlangsamt. Laut Hilfsorganisationen könnte dies die letzte Hoffnung für viele Bewohner sein zu fliehen – bevor die irakische Armee den endgültigen Sturm auf die Stadt beginnt. 90.000 Zivilisten sollen nach UN-Angaben noch in der Stadt sein.

„Wir haben in den letzten 48 Stunden einen Massenexodus von über 4000 Zivilisten aus der Stadt erlebt. Wir sind erleichtert, dass sich so viele in Sicherheit gebracht haben“, sagt Karl Schembri von der norwegischen Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council. Er arbeitet in einem Lager für Flüchtlinge aus Falluja am anderen Ufer des Euphrats. „Aber es sitzen immer noch Tausende Menschen in der Falle von Falluja fest“, erzählt Schembri der „Presse“ am Telefon.

„Sie kommen nicht weg: Es ist extrem gefährlich zu fliehen.“ Die Straßen seien voller Sprengsätze, erzählten Menschen, die es geschafft hatten, aus der Stadt zu entkommen. Zudem habe der IS überall Scharfschützen postiert, die auf Flüchtlinge schießen. „Wer Glück hat, kann sich seinen Weg in die Freiheit vom IS erkaufen“, sagt der Helfer.

Licht aus Datteln

Nicht vergessen kann Schembri die Geschichte einer alten Frau, die er selbst im Lager getroffen hat. „Diese Großmutter musste mit eigenen Augen mit ansehen, wie ihre drei Enkel im Euphrat ertranken. Die Kinder waren 16, acht und fünf Jahre alt: zwei Mädchen und ein Bub“, schildert Schembri. Die Frau hatte es geschafft, das sichere Flussufer zu erreichen. Ihre Enkel befanden sich aber noch an Bord eines Boots, während ihre beiden Söhne am anderen Ufer vom IS aufgehalten worden waren. Als das Boot kenterte, rief der Sohn verzweifelt nach seiner Familie, aber er konnte nichts mehr tun. Die Großmutter am anderen Flussufer sei innerlich zerrissen gewesen, erzählte sie später im Lager: Sie wusste nicht, ob sie zurück zu ihren Söhnen sollte – und somit in das vom IS kontrollierte Gebiet – oder ob sie sich selbst retten sollte. Sie entschied sich, nicht zurückzukehren: „Die Menschen in Falluja verhungern.“ Die Frau wird jetzt im Flüchtlingslager betreut: „Sie ist total traumatisiert. Drei Enkel sind ertrunken. Zu den Söhnen hat sie den Kontakt verloren. Sie weiß nicht, ob sie vom IS mitgenommen wurden und ob sie noch am Leben sind“, schildert Schembri.

Für jene Zivilisten, die noch in Falluja sind, sei das Leben die Hölle, berichteten Flüchtlinge dem Helfer: Es fehle an Nahrungsmitteln, Wasser, Treibstoff. Hunger sei neben der Angst vor dem IS und den Kämpfen der wichtigste Fluchtgrund. „Menschen essen verrottete Datteln, sie kochen sie und machen Sirup daraus“, sagt er. „Viele essen Viehfutter und sind gezwungen, verschmutztes Flusswasser zu trinken. Außerdem gibt es keinen Strom. Sie tunken Datteln in Öl und zünden sie an, damit sie nachts ein wenig Licht haben“, so der Mitarbeiter der norwegischen Hilfsorganisation.

Frauen und Kinder in Camps

Menschen, denen die Flucht aus Falluja gelungen ist, versuchen nun in den Zelten des Flüchtlingscamps der gnadenlosen irakischen Hitze zu entfliehen. Die meisten Familien sind auseinandergerissen worden, vor allem Väter und Söhne mussten in der Stadt bleiben: Der IS kontrolliert Männer am strengsten und hindert sie mit Gewalt an der Flucht. Die wenigen, die es schaffen, werden von der irakischen Armee und den schiitischen Milizen verhört. Dabei häufen sich die Berichte von massiven Menschenrechtsverletzungen.

Laut der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch werden unbewaffnete Männer in Falluja vom IS geschlagen, gefoltert und exekutiert. Manche Männer sollen an unbekannte Orte gebracht worden sein und sind seitdem verschwunden.

Im Flüchtlingslager befinden sich deshalb vor allem Frauen und Kinder. Was nun aus ihrer Zukunft werden soll, wissen sie selbst nicht. Das Einzige, was sie im Moment sicher wissen, ist, dass sie zumindest ihr nacktes Leben gerettet haben.

AUF EINEN BLICK

Die irakische Armee versucht seit Mai, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aus Falluja rund 70 Kilometer westlich von Bagdad zu vertreiben. Nach Angaben von Hilfsorganisationen sind seit Beginn des Einsatzes mehr als 27.000 Menschen aus der Stadt in nahe liegende Flüchtlingslager entkommen. Die Helfer seien mit Neuankömmlingen „völlig überlastet“. Rund 90.000 Menschen sind Hilfsorganisationen zufolge noch in Falluja eingeschlossen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2016)

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