Mutter Teresa: "Engel der Gosse" tritt ein in den Kreis der Heiligen

(c) EPA (Tomasz Gzell)
  • Drucken

Am Sonntag wird Papst Franziskus Mutter Teresa (1910-1997), die Gründerin des Ordens der Missionarinnen der Nächstenliebe, heiligsprechen. Die in Skopje geborene Tochter albanischer Eltern und ihr Werk für Arme, das sie einst in Indien begann, sind indes nicht unumstritten.

Vor der Haustür mit der Nummer 54A an der A. J. C. Bose Road war es bereits dunkel. Innen drückten die schlichten Holzmöbel nach ein paar Minuten unbequem im Rücken, als Mutter Teresa damals, an einem Abend Anfang 1996, endlich eine halbe Stunde Zeit fand, um mit ein paar deutschen Reportern zu sprechen.

Auf den ersten Blick wirkte der „Engel der Gosse“, wie sie bewundernd genannt wurde, etwas verhutzelt. Aber Mutter Teresa entpuppte sich – ein gutes Jahr vor ihrem Tod – schnell als sprühendes Energiebündel samt unerschütterlichem Tatendrang und erzkonservativen Ansichten. „Wir sind hier, um zu helfen. Uns interessiert nicht, warum die Leute arm sind“, beschrieb die Gründerin des Ordens der Missionarinnen der Nächstenliebe ihre Devise und wackelte mit ihrem leicht verkrüppelten dicken Zeh in den Riemensandalen.

Kolkata, laut Statistik die drittreichste Stadt Indiens nach der Wirtschaftsmetropole Mumbai und der Hauptstadt Delhi, trug während dieser Begegnung noch den Namen Kalkutta. Der Name der Metropole im Osten des Landes stand für das schier unvorstellbare Elend, das einst als Synonym für Südasien galt. Verwaschene und vernachlässigte Fassaden, baufällige Bauten und Tausende von Menschen, die nachts auf aus der Kolonialzeit stammenden Fußgängerwegen übernachteten, passten nahtlos in das Klischee auswegloser Not.
Es war längst noch nicht eine derartige Metropole des Elends, die Mutter Teresa bei ihrer Ankunft in Indien (und ihrer Bestimmung) 1929 vorfand. 1928, mit 18 Jahren, hatte die Tochter wohlhabender, frommer und konservativer katholischer albanischer Kaufleute, die in der heutigen mazedonischen Stadt Skopje geboren worden war (damals im Osmanischen Reich) und zeitweise in Albanien aufwuchs, beschlossen, Nonne zu werden. Anjezë Gonxha Bojaxhiu, wie sie eigentlich hieß, schloss sich den Loreto-Schwestern an und lernte in deren Abtei im irischen Rathfarnham Englisch. 1929 ging sie auf die Reise nach Indien und kam zunächst ins malerische nordostindische Darjeeling. Sie lernte Bengali, die Sprache der Region, zu der auch Kalkutta gehört.

Sie lag den Bischöfen in den Ohren.1931 legte sie ihr Gelübde als Nonne ab und wählte den Namen der Schutzheiligen der Loreto-Schwestern, Thérèse de Lisieux. Sie verlegte sich aber auf die spanische Version des Vornamens, weil in Kalkutta eine andere Nonne schon den gleichen Namen trug. 20 Jahre lang unterrichtete sie nun an der Schule des Ordens im Osten von Kalkutta und brachte es bis zur Leiterin. Aber die behütete Tätigkeit als Lehrerin für Kinder gehobener Schichten genügte ihr nicht. Jahrelang lag sie ihren Oberinnen und Bischöfen in den Ohren, bis sie 1948 einen Orden gründen durfte: die Missionarinnen der Nächstenliebe.

„Mutter“ Teresa war sie indes schon einige Jahre früher geworden. Auf einer Zugfahrt von Kalkutta nach Darjeeling hatte sie laut eigenen Worten eine Erkenntnis gehabt: „Ich musste den Konvent verlassen und unter den Armen leben.“ In katholischer Romantik wird dieser Entschluss gern als „höhere Eingebung“ verherrlicht. In Wirklichkeit dürfte die Nonne auf ihre Erlebnisse in Kalkutta reagiert haben. An ihrer katholischen Schule dort unterrichtete sie ja überwiegend die Kinder britischer Kolonialherren, europäischer Geschäftsleute und ein paar wenige indische Kinder.

Hunger und Mord. Gleichzeitig entfaltete der Schrecken damals seine furchtbare Vielfalt in Kalkutta. 1943 raffte, unter britischer Kolonialherrschaft, eine Hungersnot Millionen Menschen dahin. 1946 metzelten einander in den Straßen Kalkuttas Hindus und Moslems im Zuge der blutigen Gründung Indiens (Unabhängigkeit August 1947) und der Trennung von Pakistan/Bangladesch nieder. Es gab Hundertausende Tote. Zwei bis drei Millionen Flüchtlinge strömten aus Ostpakistan, dem späteren Bangladesch, nach Kalkutta.

„Mutter Teresa wäre ohne Kalkutta nicht möglich gewesen“, sagt der Brite Gautam Lewis (39). Den jungen Mann, der heute unter anderem einen Pilotenschein besitzt und gerade in Kolkata einen Film über das Leben und Wirken von Mutter Teresa vorstellt, würde es ohne die Albanerin möglicherweise auch nicht geben. Als Säugling erkrankte Lewis an Polio und landete auf glücklichen Umwegen in einem Kinderheim in Kalkutta. Im Alter von drei Jahren vermittelten ihn die Missionarinnen der Nächstenliebe im Rahmen eines umstrittenen Adoptivprogramms an Eltern in Großbritannien. „Ich will mit meinem Film Mutter Teresa wieder jungen Leuten nahebringen“, begründet Lewis seinen Film über die Gründerin der Missionarinnen der Barmherzigkeit.

Damals, bei dem Treffen an einem kühlen Jännerabend 1996 in dem Raum des heutigen Mutterhauses des Ordens, wo Mutter Teresa heute in einem steinernen Sarkophag liegt, war sie dank des Friedensnobelpreises von 1979 längst so berühmt, dass selbst Kubas kommunistische Ikone Fidel Castro der katholischen Ikone in der weiß-blauen Tracht ihrer Missionarinnen die Tore öffnete. Doch keiner der deutschen Journalisten zog damals bei dem Treffen in Kolkata die Möglichkeit in Betracht, dass der Vatikan dank der Initiative von Papst Johannes Paul II. die lebhafte Nonne mit dem zerfurchten Gesicht und den von Arbeit gezeichneten Händen im Rekordtempo ganze 20 Jahre später, heute, Sonntag, auf der Grundlage von zwei voneinander unabhängigen, ihr zugeschriebenen Wundern heiligsprechen würde.

1996 hatten die Kardinäle in Rom auch noch nicht beschlossen, dass die Zukunft der katholischen Kirche in Asien liegen würde. In Indien, fünf Jahrzehnte lang die Wahlheimat von Mutter Teresa, überwog die Ehrfurcht vor dem Einsatz der europäischen Frau die religiöse Hetze, mit der heutzutage führende Hindu-Nationalisten bis hin zu Mohan Bhagwat, dem Chef der radikalen Hindu-Organisation RSS, die Nachfolgerinnen Teresas überschütten. Der „Engel der Gosse“, wie sie unter anderem genannt wurde, habe statt Wohltätigkeit doch nur ein Ziel im Sinn gehabt: Die Inder zum Christentum zu bekehren.

Kritik von Atheisten. Teresa kannte solche Kritik sehr wohl. Dann veröffentlichte der britische Autor Christopher Hitchens (1949–2011), ein Verfechter des Atheismus, 1995 sein Buch mit dem polemischen Titel „Die Missionarsposition: Mutter Teresa in Theorie und Praxis“. Er warf den Missionarinnen der Nächstenliebe vor, Armen und Kranken vor allem deshalb zu helfen, um die Verbreitung ihres „fundamentalistischen katholischen Glaubens“ zu fördern. Der „Engel der Gosse“ bestärkte solch Vorhaltungen freilich auch noch mit ihrer Bereitwilligkeit, vor einer Volksabstimmung in Irland über die Abschaffung des Scheidungsverbots für die Gegner der Abschaffung zu werben.

Teresas grundsätzliche Ablehnung von künstlicher Familienplanung und Abtreibung als – so ihre Worte – „Mord im Mutterleib“ schien schon Mitte der 1990er einerseits nicht mehr sehr zeitgemäß. Andererseits wirken ihre Worte angesichts der Abtreibung von Millionen weiblicher Föten in Indien (und anderswo, etwa in China) auf Basis von Ultraschall-Geschlechtserkennung heute wie ein düsteres Orakel. Gleichzeitig handelte sie nach dem Motto „Geld stinkt nicht“ und akzeptierte Spenden ohne Ansehen der Person von jedermann.

Wieso nicht heilen helfen? Die „Theologie des Leidens“, wie manche Kritiker die Weigerung der Missionarinnen der Nächstenliebe nannten, Ursachen von Armut und Elend zu bekämpfen, entstand Ende der 1950er, als nach den Schrecken des Kriegs plötzlich Hungersnöte, Cholera und Tuberkulose Indien bedrohten. Rund um das Khaligat, das „Sterbehaus“ des Ordens im Zentrum von Kolkata, über dem auch heute der Gestank geronnenen Bluts von Tieropfern steht, starben damals in der Gosse Dutzende Menschen, um die sich keiner kümmerte. Mutter Teresa versuchte nicht nur als Erste, sondern zunächst auch als Einzige, mit ihrem Sterbeheim die Leiden todgeweihter Menschen, die sie sprichwörtlich aus der Gosse holte, in deren letzten Tagen zu lindern. Die spätere Kritik, die Nonnen hätten medizinisch mehr für die Kranken tun können, mag richtig sein. Ob sie damals die Möglichkeiten dazu hatten, ist heute schwer zu beurteilen.

„Es war die Zeit von Albert Schweitzer“, beschrieb vor ein paar Jahren die aus München stammende, damals 71-jährige Ärztin und Nonne Schwester Andrea ihr Motiv, Anfang der 1950er-Jahre ihre Heimat hinter sich zu lassen. Eine monatelange Irrfahrt über die Meere brachte sie schließlich an ihr Ziel Kalkutta. Schwester Andrea arbeitete als Leiterin eines Kinderheims, als sie der „Presse am Sonntag“ ihr schlichtes Ziel enthüllte: „Ich wollte Gutes tun.“

Linientreue Nachfolgerinnen. Die Einstellung der Ärztin klang so überholt wie der feste Wille der Missionarinnen der Nächstenliebe, nach dem Tod Mutter Teresas 1997 so weiterzumachen, wie die Ordensgründerin es vorgelebt hatte. „Es gibt keinen Grund, unsere Linie zu ändern“, hieß es damals im Mutterhaus des Ordens. Nun scheint es, als seien die Nonnen in den blau-weißen Kutten mit ihrem Beharren, lediglich zu helfen und keine Fragen nach den Ursachen zu stellen, zeitloser als ihre Kritiker.

Jedenfalls scheinen die Zeiten, als Hilfsorganisationen, Staaten, die UNO oder Kirchen versuchten, wirklich die Wurzeln von Armut, Konflikten und Elend zu beseitigen, vorübergehend der Vergangenheit anzugehören: Wirtschaftshilfe dient heute doch vor allem der Unterstützung der eigenen Ökonomie. Für NGOs ist es zunehmend schwieriger, Spenden für langfristige Projekte zu sammeln, die keine schnellen Erfolge vorweisen können. Humanitäre Arbeit, die gleich nach Katastrophen das Elend bekämpft, kennt solche Probleme weit weniger.

Freiwillige für das Sterbehaus. So gesehen kommt die Heiligsprechung Mutter Teresas zu einem denkbar günstigen Zeitpunkt: Der Vatikan verherrlicht eine Frau, die helfen wollte, ohne nach Hintergründen zu fragen. Zumindest in Kolkata wirkt das Konzept: Die Missionarinnen der Nächstenliebe, heute in 137 Ländern mit rund 4000 Nonnen vertreten, müssen bereits ein halbes Dutzend Unterkünfte anbieten, um Freiwillige aus aller Welt zu beherbergen, die ein paar Wochen im dortigen Sterbeheim oder anderen Einrichtungen des Ordens arbeiten wollen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Weltjournal

Papst sprach Mutter Teresa heilig

Vor hunderttausenden Pilgern hat Papst Franziskus die albanische Ordensfrau Mutter Teresa heiliggesprochen. Im Vatikan gab es Pizza für die Armen.
Weltjournal

Drei Balkanstaaten streiten sich um Mutter Teresa

Albanien, Mazedonien und Kosovo befinden sich im Wettstreit.
Reise

Wie man zu einem Heiligen wird

Man muss Märtyrer gewesen sein oder ein extrem gottgefälliges Leben plus Wundertätigkeit nach dem Tod aufweisen, damit einen die Kirche für heilig erklärt. Wie viele Heilige es gibt, ist indes unklar.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.