Mit dem Elektroauto die Kurve kratzen

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Jetzt gibt es kein Zurück mehr: Der Dieselskandal drängt VW ins Abenteuer Elektroauto. Konzernchef Matthias Müller arbeitet gleichzeitig am Umbau von Europas größtem Autobauer.

Muss man sich automatisch hinten anstellen, nur weil man spät dran ist? Volkswagen hat mehrmals das Gegenteil bewiesen. Der Golf war nicht der erste Kompakte, der Tiguan nicht das erste SUV. Beide Modelle sind Bestseller geworden, führen in vielen Ländern Europas ihr Segment an. Das kann auch in der Elektromobilität so kommen. Es ist Timing, das zählt, das volatile Zusammenspiel von Produkteigenschaften und Markterwartung.

Als Pionier auf dem Gebiet werden die Wolfsburger allerdings nicht mehr durchgehen. Der Volkswagen I.D., soeben auf dem Pariser Autosalon als Konzept vorgestellt, soll 2020 in den Schauräumen stehen. Klingt nach eher gemütlichem Tempo, nachdem andere Hersteller in Paris schon die erste Modellpflege ihrer E-Autos absolvieren, die Reichweite hinaufschrauben oder mit verblüffenden Ansagen überraschen: Der Opel Ampera-e soll bis zu 500 Kilometer mit einer Ladung schaffen, das liefern bislang nur die teuren Flitzer von Tesla. Er wird ab Mitte des nächsten Jahres zu kaufen sein.

Aber Zauberei beherrscht man eben nicht einmal in Wolfsburg, wo man mit den Arbeiten am ersten rein für Elektroantrieb gedachten Auto gerade erst begonnen hat. Vier Jahre rechnet man in der Branche für die Entwicklung einer neuen Baureihe, was den I.D. als Kind von Konzernchef Matthias Müller ausweist, der seit einem Jahr im Amt ist. Und nicht etwa seines Vorgängers, Martin Winterkorn.

Er redete zwar viel vom Elektroauto, entschied sich aber ein ums andere Mal für das Aussitzen. Dafür hatte er auch seine Gründe. Doch seit Dieselgate ticken die Uhren anders. Nicht nur beim VW-Konzern, dort aber besonders. Der Ruf des Dieselmotors hat, gelinde gesagt, etwas gelitten. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass die politisch gesetzten Rahmenbedingungen, die den europäischen Dieselboom ausgelöst haben und bis auf Weiteres am Laufen halten, sich doch noch verändern.


Dieselverbot. Im kommunalen Bereich ist das bereits im Gang. Die Kommunen sind auch die ersten Empfänger der sich häufenden Beschwerden über miese Luftqualität. Die Pariser Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, ist unverändert entschlossen, Dieselautos ab 2020 aus der Stadt zu verbannen (das hat sie 2014 angekündigt, also vor dem VW-Skandal). Ein Spruch des Düsseldorfer Verwaltungsgerichts hat Dieselfahrverbote unlängst als Maßnahme gegen zu hohe Stickoxidwerte gebilligt. Da wie dort mag noch viel gestritten werden, doch es baut sich Druck auf.

Der de facto rechtliche Freiraum, in dem die kleine Problemzone des Dieselmotors – der Schadstoffausstoß im realen Fahrbetrieb – bislang kaschiert wurde, wird mit jeder neuen Enthüllung über Tricksereien der Hersteller auf dem Prüfstand nicht größer. Wenn die europäischen Behörden bei den Zulassungsverfahren künftig statt beider Augen nur noch eines zudrücken, wird der Dieselmotor in der Herstellung nochmals empfindlich teurer. Sollte dann auch noch an den großen Rädern gedreht, sprich die steuerliche Minderbesteuerung des Dieselkraftstoffs aufgehoben werden, hat er als Antrieb für die Massen ausgedient.

Das alles war vor Dieselgate nicht unvorhersehbar, führt seither aber umso folgerichtiger zum Elektroauto. Zumindest zu einem namhaften elektrischen Anteil im Portfolio der Marken, wenn es ab 2021 gilt, die neuen CO2-Grenzwerte von 95 Gramm pro Kilometer (bislang: 130) einzuhalten.

Dass sich die Begeisterung der Käufer noch in Grenzen hält, ist nicht überraschend. Es gibt kaum Modellvielfalt, keinen Kombi, kein Cabrio und für die Langstrecke nur die Edelelektriker von Tesla. Seit Mercedes in Paris ein eigenes Label für Elektroautos ausgerufen hat, ist mit Besserung zu rechnen. Die Premiummarken werden tunlichst darauf achten, niemanden aus ihrem Kreis zu weit vorfahren zu lassen – und vor allem die lästigen Kalifornier endlich zu entzaubern.

„Man muss die Leute einmal in die Autos kriegen“, sagt Michael Viktor Fischer, Chef des Ladeinfrastrukturanbieters Smatrics. Neben dem Fahrspaß spricht Fischer auch von einem „Paradigmenwechsel, den man erst akzeptieren muss“. Demgemäß dauere das Laden eines E-Autos „genau zehn Sekunden: fünf zum Anstecken und fünf zum Abstecken.“ Es skizziert künftiges Stromtanken als größte Beiläufigkeit, die sich zu Hause, in der Arbeit, beim Shoppen, im Kino praktisch von selbst erledige. Statt Reichweitenangst habe man immer ein volles Auto. Tanken von Benzin oder Diesel sei dagegen „tote Zeit. Man kann nicht einmal eine rauchen.“

Ob begehrenswerte Mercedes-Stromer, Ladesäulen an jeder Ecke oder ernsthafte staatliche Förderung – die Überzeugungsarbeit am Konsumenten kann VW recht gelassen anderen überlassen. In fünf Jahren könnte der I.D. genau zur rechten Zeit auf dem Markt aufschlagen. Bis dahin hat Konzernchef Müller ein drängendes Problem zu lösen – der Zeitpunkt dafür ist günstiger als je zuvor. Denn der Ertrag der Marke Volkswagen gilt als größte Schwachstelle des Konzerns. Die Autos werden zu teuer produziert. Das rührt vom traditionell starken Einfluss der Arbeitnehmervertreter und von der Mitsprache des Landes Niedersachsen, das Teilhaber an VW ist. Man wehrt sich gegen das gängige Muster der Branche, dort zu produzieren, wo es billiger ist. Martin Winterkorn ist dagegen nie zu Feld gezogen, dafür wurde der Maschinenbauingenieur in den Werkshallen auch geschätzt.

Mit dem Aufbruch zum Elektroauto haben CEO Müller und VW-Markenchef Herbert Diess andere Karten in der Hand. Die Wandlung vom Autobauer zum Mobilitätsdienstleister, in Paris gleich als neue Konzernmarke ausgerufen, ist Vorbote, dass die Wertschöpfung in Zukunft nicht mehr im Zusammenschrauben von Verbrennungsmotoren oder im Verkauf von Auspufftöpfen liegt. „Wir müssen profitabler und wettbewerbsfähiger werden“, erklärte Diess in Paris. „Es werden drei bis vier harte Jahre.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.10.2016)

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