Viennale: Filmpoesie, Könige und Gangster

(c) Mary Cybulski
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Das Programm des Wiener Filmfestivals ist dicht, eklektisch und überbordend wie immer. Zu entdecken gibt es viel aus fernen Filmnationen. Einige Empfehlungen.

Wenn man den Viennale-Programmplan vor sich ausbreitet, sieht es fast so aus, als hätte jemand mit Filmen „Tetris“ gespielt: Farbcodierte, rechteckige Terminblöcke fügen sich nahtlos ineinander und ergeben ein mysteriöses Muster, das seiner Entschlüsselung harrt. Das Erscheinungsbild dieses Planpuzzles ist bezeichnend für die jährliche Bestrebung des Wiener Filmfestivals, die spannendsten Positionen der Weltkinogegenwart auf zwei Veranstaltungswochen zu komprimieren. Heuer wurde ein Spieltag gekürzt, laut Pressetext zwecks „verbesserter Übersichtlichkeit“ – aber natürlich ist das Angebot genauso dicht, eklektisch und überbordend wie immer. Festivaldirektor Hans Hurch zeichnet bereits zum 20. Mal (und noch bis 2018) dafür verantwortlich. Sein cinephiler und politischer Zugang als Kurator kommt nach wie vor nicht ohne Leerstellen aus, manche wünschen sich frischen Wind, aber der anhaltende Balanceakt der Viennale zwischen Stadtpublikumsnähe, internationalem Renommee und radikalem Kunstanspruch ist nichtsdestotrotz beachtlich.

Eröffnet wird am Donnerstag mit „Manchester by the Sea“ von Kenneth Lonergan, dessen fein ziselierte Melodramen zu den schönsten Geheimtipps des US-Indiekinos gehören. Er wird in Wien zugegen sein: Das Festival widmet seinem schmalen Regiewerk ein Tribute. In „Manchester“ kehrt ein Mann (Casey Affleck) in seine Heimatstadt zurück, um den Nachlass seines Bruders zu regeln. Wie immer nutzt Lonergan diese Ausgangssituation für die Auslotung komplexer Beziehungsgefüge, bei denen Gefühle und Notwendigkeiten im Clinch liegen. Ansonsten ist der amerikanische Autorenfilm heuer weniger präsent als üblich: Als Abschlussfilm läuft Damien Chazelles schönes Retromusical „La La Land“ mit Ryan Gosling und Emma Stone, davor finden sich das berückende Poesiealbum „Paterson“ von Jim Jarmusch und Kelly Reichardts einfühlsames Episodenstück „Certain Women“.

Isabelle Huppert im Doppelpack

Umso mehr gibt es aus Filmnationen zu entdecken, die im heimischen Verleihbetrieb eher Nachtschattengewächse darstellen. Der Südkoreaner Hong Sang-soo liefert mit „Yourself and Yours“ eine gefinkelte Spiegelgeschichte um Liebe und Alkohol, „In the Last Days of the City“ ist ein melancholischer Streifzug durch Ägypten vor der Revolution und „Wet Woman in the Wind“ eine humorvolle Hommage an das traditionsreiche japanische Erotikgenre „Roman Porno“. Für Mutige mit Sitzfleisch empfehlen sich gleich drei philippinische Epen des Venedig-Siegers Lav Diaz: Die dauern zwar mehrere Stunden, sind aber absolut singulär in ihrer archaischen Ästhetik. Überlänge hat auch eine der interessantesten Dokus, „Homeland (Iraq Year Zero)“: Regisseur Abbas Fahdel zeichnet darin ein persönliches Sittenbild seiner Heimat vor und nach dem dritten Golfkrieg.

Christopher Walken schafft es nun doch nicht zur Viennale, die Schau zu seinen Ehren ist dennoch sehenswert. Dafür kommen Patti Smith und John Carpenter. Im Übrigen kann man Schauspiellegenden in tollen Altersrollen bestaunen: Der katalanische Kinoexzentriker Albert Serra lässt Nouvelle-Vague-Galionsfigur Jean-Pierre Léaud in „La mort de Louis XIV“ stimmungsvoll als Sonnenkönig dahinsiechen, während ein inoffizielles Double Feature am 25. 10. den Facettenreichtum Isabelle Hupperts feiert: Mia Hansen-Løves Spätlebenskrisenporträt „L'avenir“ und Paul Verhoevens bissige Dramödie „Elle“ laufen hintereinander im Gartenbaukino.

Unterschiedliche Perspektiven auf einen Angelpunkt eröffnet auch „Ein zweites Leben“, die diesjährige Kooperation zwischen Filmmuseum und Viennale. Abseits des zeitgenössischen Recyclingwahns Hollywoods erkundet sie, wie sich einzelne Motive im Prisma der Filmgeschichte brechen, wie Stoffe unter widersprüchlichen kulturellen, formalen und ideologischen Vorzeichen (wieder-)geboren werden – etwa wenn ein Dashiell-Hammett-Roman als Nährboden dient für Klassiker des Samuraifilms, des Spaghettiwesterns und des US-Gangsterkinos. Fast alle Filme der Schau werden analog gezeigt. Das gilt auch für die Specials zum Filmemigranten Robert Land und dem Landschaftsbeobachter Peter Hutton, während im Hauptprogramm das Digitale waltet. Aber das ist das Schöne an einem Festival wie der Viennale: Hier liegen Vergangenheit und Zukunft des Kinos in leidenschaftlicher Umarmung.

Viennale. 20. 10–2. 11. Infos und Tickets: viennale.at

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2016)

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