Die Wiedereinführung der Todesstrafe wird Öcalan an den Galgen bringen, den Kurdenkonflikt eskalieren lassen und die EU-Verhandlungen stoppen.
Ankara. Europa zuliebe verzichtete die Türkei vor 16 Jahren auf die Hinrichtung des kurdischen Rebellenchefs, Abdullah Öcalan. Inzwischen interessiert Europa niemanden mehr in der Türkei, und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ködert mit der Wiedereinführung der Todesstrafe die Nationalistenpartei. Damit kommt auch die Hinrichtung von Abdullah Öcalan wieder auf die Tagesordnung. Dass er nicht gehängt wurde und noch heute auf der Gefängnisinsel Imrali lebt, das hat der PKK-Chef ausgerechnet zwei Männern zu verdanken, die ihn jetzt doch noch an den Strang bringen könnten. Gemeinsam wollen Erdoğan und der türkische Nationalistenchef, Devlet Bahçeli, im kommenden Frühjahr die 2003 abgeschaffte Todesstrafe wieder einführen.
Mit Rücksicht auf den EU-Beitrittsprozess hatte Nationalistenführer Bahçeli im Jänner 2000 als Mitglied der damaligen Regierung zähneknirschend zugestimmt, die Vollstreckung der Todesstrafe an Öcalan auszusetzen. Denn die Hinrichtung des Rebellenchefs hätte das Aus für die EU-Kandidatur der Türkei bedeutet, die von Brüssel gerade erst anerkannt worden war und damals auch Bahçeli noch etwas bedeutete. Erdoğan war es, der als Ministerpräsident 2003 die Abschaffung der Todesstrafe verabschieden ließ – wiederum ausdrücklich als Beitrag zum EU-Beitrittsprozess.
Von diesem Beitrittsstreben hat sich die Türkei seither weit entfernt – was die EU von ihr will, lässt die Regierung heute kalt. „Eure roten Linien sind uns egal“, entgegnete Ministerpräsident Binali Yildirim jetzt dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, als dieser die Verhaftungswelle in der Türkei kritisierte und von der Überschreitung einer roten Linie sprach: „Wir überkritzeln eure Linien mit unseren eigenen.“
Vom stabilisierenden Korsett der europäischen Werte befreit, ist in der Türkei auch die Wiedereinführung der Todesstrafe nicht mehr tabu – mehr noch: Es zeichnet sich sogar eine politische Mehrheit dafür ab. „Wir sind sofort dabei“, hat Nationalistenführer Bahçeli angekündigt, der damit seinen Parteivorsitz zu retten hofft. Erst im Sommer hatte er den Posten nur mit knapper Not und Rückendeckung der Regierung gegen innerparteiliche Gegner verteidigen können. Mit der Wiedereinführung der Todesstrafe könnte er seinen Führungsanspruch in der militant anti-kurdischen Partei festigen.
Ein Deal zur Verfassungsänderung
Erdoğan sieht darin die Chance, die parlamentarische Demokratie der Türkei zum Präsidialsystem umzubauen. Werden nämlich Präsidialsystem und Todesstrafe in einer Verfassungsänderung verknüpft, dürften die Ja-Stimmen im Parlament gesichert sein, um für das kommende Frühjahr eine Volksabstimmung anzusetzen.
Bahçeli nahm eine Einladung Erdoğans zu einem Gespräch über das weitere Vorgehen an. In Ankara geht es bereits um die Formulierung eines verfassungsändernden Gesetzesentwurfs. Putschversuch, Terrorismus und sexueller Missbrauch von Kindern sollten demnach künftig mit dem Tod bestraft werden können, berichten regierungsnahe Zeitungen. Ministerpräsident Yildirim betonte zwar, dass eine rückwirkende Anwendung nicht möglich sein werde. Der Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Mustafa Şentop, betonte aber, dass es andere Möglichkeiten gebe, mit den neuen Bestimmungen auch den islamischen Prediger Fethullah Gülen und PKK-Chef Öcalan an den Galgen zu bringen. Gülen und Öcalan könnten für Taten ihrer Anhänger verantwortlich gemacht und dafür aufgehängt werden, spekulieren türkische Medien. Bei Öcalan kommt dazu, dass er bereits zum Tod verurteilt wurde, womit das Rückwirkungsverbot umgangen werden könnte.
Gewiss ist, dass die Hinrichtung von Öcalan zum offenen Bürgerkrieg in Südostanatolien und in den Großstädten führen würde. Die gewählten Vertreter der Kurden sitzen hinter Gittern – erst am vergangenen Wochenende wurden auch die Oberbürgermeister der kurdischen Millionenstadt Diyarbakir abgeholt und ihre Stadt unter türkische Zwangsverwaltung gestellt. Kurdische Medien sind abgeschaltet und verboten – vom Kinderfernsehen bis zu Lokalblättern.
Am Leben von Öcalan, mit dem der Staat jahrelang über eine friedliche Lösung verhandelt hat, hängen deshalb die letzten Hoffnungen der Kurden. Wenn er aufgehängt wird, bleibt nur noch die Gewalt.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2016)