Der Aufbau einer Präsidialrepublik in der Türkei schreitet voran. Ob die Verfassungsänderung durchgeht, ist aber nicht sicher.
Wien/Ankara. Ein äußerst blutiges Jahr geht für die Türkei zu Ende: Terroranschläge von islamistischen und kurdischen Extremisten, massive Überfälle seitens türkischer Streitkräfte in den von Kurden bewohnten Regionen, der brutale Putschversuch Mitte Juli, der seither andauernde Verhaftungsexzess. Besonders seit dem dilettantisch durchgeführten Coup preist die regierende AKP ihre geplante Verfassungsänderung als einzig möglichen Weg, dem Chaos Einhalt zu gebieten.
Dienstagnacht hat die Verfassungskommission die ersten beiden Artikel von insgesamt 21 angenommen. Alle Änderungen zielen auf eine Präsidialrepublik hin, die den derzeitigen Amtsinhaber, Recep Tayyip Erdoğan, zum mächtigsten Mann des Staates machen würde – eine „starke Führung“, wie es jüngst Premier Binali Yıldırım ausgedrückt hat. Von den 21 Änderungen sind daher die ausschlaggebend, die die Artikel 104–106 der türkischen Verfassung und somit die Rolle des Präsidenten betreffen: Das Staatsoberhaupt hat keine hauptsächlich repräsentative Rolle mehr inne, sondern eine regierende.
Das Amt des Ministerpräsidenten soll abgeschafft werden, stattdessen ernennt der Staatschef eine gewisse Anzahl von Vizepräsidenten, auch bestimmt er die Minister und kann sie absetzen. Die Ministerien selbst darf der Präsident sowohl auflösen als auch umbauen. Darüber hinaus ist es dem Staatschef vorbehalten, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Die Zustimmung des Parlamentes ist – im Gegensatz zum derzeitigen Ausnahmezustand – nicht vorgesehen.
Zugriff auf die Justiz
Die Zahl der Parlamentsabgeordneten soll von 550 auf 600 erhöht werden. Unklar bleibt aber die tatsächliche Rolle der Großen Nationalversammlung. Die neue Verfassung sieht offensichtlich eine Schwächung des Parlamentes vor, jedoch bleibt seine Position als gesetzgebende Kraft zumindest auf dem Papier erhalten. Denn der entsprechende Artikel 7, wonach die Legislative im Parlament angesiedelt ist, bleibt unberührt. Dort heißt es auch: „Diese Macht kann nicht delegiert werden.“ Andere Punkte sind da konkreter. Der Präsident bekommt direkten Eingriff in die Justiz, indem er Vertreter in den Rat der Richter und Staatsanwälte entsenden kann. Bisher hat sich der Rat, der eben die Richter und Staatsanwälte bestimmt, justizintern konstituiert. Künftig soll der Präsident die Hälfte des Rates bestimmen dürfen, während die andere Hälfte vom Parlament ernannt werden soll. Auch darf der Staatschef „hohe zivile Positionen“ besetzen, womit alles von Wissenschaft bis Bildung oder Umweltpolitik gemeint sein könnte. Seine Parteizugehörigkeit darf der Staatschef beibehalten, und als Oberbefehlshaber der Streitkräfte handelt er nicht mehr im Auftrag des Parlamentes. Interessant mit Blick auf die Ereignisse der Putschnacht: Die Militärgerichte sollen bis auf Disziplinarverfahren und Verfahren bei Kriegsverbrechen abgeschafft werden.
Beobachter gehen davon aus, dass Erdoğan in seiner Präsidialrepublik hauptsächlich per Dekret regieren wird. Will das Parlament das Dekret verhindern, braucht es die qualifizierte Mehrheit. Komplett umbauen kann aber auch Erdoğan die türkische Verfassung nicht: Die Türkei bleibt selbst nach der Änderung ein laizistischer Staat, etliche Punkte wie beispielsweise fundamentale Menschenrechte, Persönlichkeitsrechte, der Schutz der Jugend und selbst die Pressefreiheit bleiben – auf dem Papier – unberührt. Diese darf der Präsident nicht anrühren.
Ende der Koalitionsregierungen
Das Parlament kann zwar den Präsidenten absetzen, für das mehrstufige Verfahren ist jedoch die Mehrheit von 301 bzw. 400 Stimmen notwendig. Nun, sollte die Verfassung tatsächlich geändert werden, ist die Wahl des neuen/alten Präsidenten sowie des Parlamentes für November 2019 vorgesehen. Mit maximal zwei Amtsperioden à fünf Jahren könnte Erdoğan bis 2029 regieren. Die Regierung rührt daher kräftig die Werbetrommel und argumentiert mit Stabilität, mit dem Ende der politischen Grabenkämpfe im Parlament, mit dem Ende der konfliktintensiven Koalitionsregierungen. Als Beispiele bringt die AKP europäische oder das US-amerikanische Modell auf das Parkett, wiewohl die Vergleiche hinken. Frankreich etwa hat einen Premier, die USA sind im Gegensatz zur Türkei stark dezentral ausgerichtet.
Die Werbetrommel braucht die Regierung deshalb, weil die Präsidialrepublik nach Erdoğan'scher Façon alles andere als gesichert ist. Die Verfassungskommission mag zwar alle 21 Artikel durchwinken, aber über die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament verfügen die AKP und die kooperierende rechtsextreme MHP nicht. Geplant ist daher ein Referendum, vermutlich im Frühsommer. Obwohl Erdoğan auf hohe Zustimmungswerte zählen kann, ist auch die Annahme durch das Volk keine ausgemachte Sache; seit den Massenentlassungen und seit den Angriffen auf die beiden linken Oppositionsparteien ist der Groll auf den Präsidenten gestiegen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2016)