Die AKP muss endlich lernen, Verantwortung zu übernehmen

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Terror und Instabilität erschüttern die Türkei. Der Regierung zufolge ist es aber nicht die eigene Politik, sondern sind es immer die anderen, die schuld sind.

Der türkische Modemacher Barbaros Şansal ist ein Mann, der immer wieder mit zänkischen Wortmeldungen auffällt. Er ist eine Art bunter Vogel, er setzt sich für die Rechte der Homosexuellen ein, und mit Marihuana hat man ihn auch schon einmal erwischt. In der Silvesternacht postete Şansal ein Video aus Nordzypern, in dem er wütend-sarkastisch über die Sicherheitslage in der Türkei herzieht, und als Finale setzt er ein „Ertrinke in deiner Scheiße, Türkei“ nach. Mehr hat es nicht gebraucht. Die Behörden warfen ihm Volksverhetzung vor, Nordzypern schickte ihn umgehend nach Istanbul zurück, und weil die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu die Landezeit der Maschine veröffentlicht hatte, wartete auf dem Atatürk-Flughafen auch schon eine aufgebrachte Menge auf ihn. Şansal wurde blutig geschlagen, und die Bilder davon sorgten in sozialen Medien tausendfach für Applaus.

Nicht zuletzt vom streitbaren AKP-Bürgermeister Ankaras, Melih Gökçek. „Du darfst die Leute nicht anstiften“, kommentiert er auf Twitter dieses unwürdige Schauspiel. In anderen Worten: Şansal, der sich mittlerweile in Haft befindet, ist selbst schuld an den fliegenden Fäusten.

Ähnlich argumentierte jüngst eine Gesprächsrunde im TV über die Verhaftung des bekannten und regierungskritischen Journalisten Ahmet Şık. Die mehrheitlich AKP-treuen Teilnehmer stimmten darin überein, dass Şık sich selbst ins Gefängnis befördert habe, weil er nicht aufhören konnte, kritische Texte zu verfassen.

Erinnern wir uns auch an die Vorweihnachtszeit. Die türkische Religionsbehörde Diyanet, die der Regierungspartei nahesteht, stufte in einer Predigt Weihnachts- und Silvesterfeiern als „unislamisch“ ein, sie warnte Gläubige ausdrücklich davor, diese Feste zu begehen. Die Predigten der Diyanet werden in Zehntausenden Moscheen verlesen, muslimische Publikationen übernahmen die Wortwahl der Predigt und verbreiteten sie nochmals. Nach dem Terroranschlag in der Silvesternacht im Istanbuler Club Reina ruderte die Religionsbehörde zwar zurück, aber einmal mehr wurde deutlich, dass die AKP-Anhänger oder Islamisten bisweilen recht heftig auf die Parteirhetorik reagieren. Allein das müsste der Regierung ausreichen, ihre Sprache und ihre Botschaften ganz genau abzuwägen, zumal sich die Türkei in einer äußerst prekären Lage befindet – erschüttert nach dem Putschversuch, bedroht von Terror und dem syrischen Bürgerkrieg direkt vor der Haustür.


Stattdessen macht es sich die AKP in der Opferrolle gemütlich, wohl wissend, große Teile der Bevölkerung hinter sich zu haben. Das ist keine Politik, mit der Frieden geschaffen werden kann: Die Provokateure sind selbst schuld, die Kurden auch, die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen sowieso. Viel zu oft ist von dunklen, ausländischen Mächten die Rede, die die Türkei destabilisieren wollten. Aber zu keinem Zeitpunkt nimmt sich die Regierungspartei selbst in die Mangel und hinterfragt ihre Rolle in diesem blutigen Chaos.

So soll hinter dem Putschversuch mit mehr als 240 Toten die Gülen-Bewegung stehen. Jeder Bürger in der Türkei weiß und hat gewusst, dass die AKP mit dieser klandestinen Sekte jahrelang eine Zweckgemeinschaft eingegangen ist. Die AKP hat den Aufstieg dieser Bewegung ermöglicht. Das darf die unsägliche Putschnacht nicht rechtfertigen, die islamische Gülen-Bewegung ist tatsächlich ein fragwürdiges Konstrukt, nie hat sie ihre wirklichen Ziele glaubwürdig preisgegeben. Aber die Massenverhaftungen und -entlassungen seit dem Coup haben die Sicherheitsinstitutionen massiv geschwächt, es fehlen Polizisten, Soldaten, Experten. Auch deswegen ist die Türkei derzeit ein leichtes Ziel für Terroristen.

Oder die Minderheiten: Als Regierungspartei trägt die AKP die Verantwortung für den Umgang mit den Kurden. Derzeit hinterlassen Splittergruppen der PKK eine Blutspur im Land, aber wie konnte es so weit kommen? Auf eine selbstkritische Reflexion der AKP wartet man vergebens, auch in der Frage des islamistischen Terrors. War es nicht die AKP-Regierung, die lange Zeit weggesehen hat, als sich vor dem Hintergrund des syrischen Bürgerkriegs jihadistische Zellen in der Türkei etabliert haben?

E-Mails an:duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2017)

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