Noch sei die digitale Welt mehr Belastung als Hilfe, sagt Markus Gosch, Chefarzt der Klinik für Geriatrie im Klinikum Nürnberg. Österreich müsse seine Spitäler zukunftsfähig machen.
Die Presse: Von der Geriatrie hört man fast nur in Kombination mit Pflegeskandalen. Wieso?
Markus Gosch: Die Geriatrie hat immer noch ein Imageproblem. Das liegt wohl daran, dass sie sich mit einer Personengruppe beschäftigt, die nicht im Trend liegt. Die Älteren, Gebrechlichen sind Randgestalten und damit auch die Berufe, die sich mit ihnen beschäftigen.
Der Nachwuchs fehlt also?
Die Geriatrie verkauft sich derzeit unter Wert, kaum ein Student hegt den Berufswunsch Geriatrie. Allerdings: Jene Kollegen, die während ihrer Ausbildung in einer geriatrischen Abteilung arbeiten, finden am ganzheitlichen Ansatz, der gelebt wird, Gefallen.
Worin liegt der Reiz?
In der Medizin sind wir evidenzbasiert getrimmt: Für bestimmte Fragen gibt es konkrete Leitlinien. Der geriatrische Patient hat aber nicht ein, sondern oft fünf Probleme – dafür gibt es keine Anleitung. Wir betreiben Heilkunst im ursprünglichen Sinn, die auf Erfahrung und Interaktion mit den Patienten setzt.
Wo beginnt man?
Es beginnt meist in der Notaufnahme: Oft stimmen die Einweisungsgründe nicht mit den wahren Problemen überein. Ein Patient wird wegen seines Verwirrtheitszustandes eingewiesen, hat aber tatsächlich eine Lungenentzündung.
Wie kann das sein?
Bei geriatrischen Patienten verändern sich die Diagnosen stetig, daher braucht es ein multiprofessionelles Team aus Ärzten, Pflegern und Therapeuten. Zudem machen wir geriatrische Assessments: Wie mobil ist der Patient, wie sein geistiger Zustand . . . Darauf baut der Behandlungsplan auf.
Der typische Geriatrie-Patient...
... ist durchschnittlich 84 Jahre alt. Etwa 75 Prozent unserer Patienten sind weiblich. Typisch sind Beschwerden seitens des Bewegungsapparats, Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden mit Diabetes. Zur Akuteinweisung führen meist Harnwegsinfekte, Lungenentzündungen oder Stürze. Dazu können eine Demenz, Schlaganfälle oder Parkinson kommen.
Die Nachfrage an Betten steigt?
In nahezu allen Geriatrien in Deutschland und in Österreich sind die Betten immer ausgelastet. Die Statistik zeigt: Die gesunden Lebensjahre werden mehr, am Ende bleiben aber stets einige Jahre übrig, in denen die Menschen pflegebedürftig sind.
Technische Neuerungen könnten dabei behilflich sein.
Es wird an Matratzen mit integriertem EKG gearbeitet, an Durst-Sensoren am Körper, an Haushaltsgeräten, die Stürze melden oder den Herd ausschalten, jedoch: Momentan sind das alles noch Projekte.
Die Digitalisierung hat die Geriatrie noch gar nicht erreicht?
Man nähert sich an. Wichtig wäre: Ein geriatrischer Patient kommt öfter in ein Krankenhaus und hinterlässt eine Fülle an Informationen. Eine Errungenschaft wäre, wenn die zuständigen Mediziner, Pfleger und Therapeuten die Informationen gezielt austauschen können.
Das geht noch nicht?
Nein. Will ich wissen, ob ein Patient, der schon zehnmal im Spital war, eine Allergie hat, muss ich mich durch Berge von Informationen wühlen. Optimal wäre ein Programm, das per Klick alles, was vom Patienten zum Thema Allergie bekannt ist, aufruft. Derzeit füttern wir die digitale Welt, ohne viel davon zu haben, da eine intelligente Vernetzung fehlt. Zugleich müssen wir aufpassen, uns nicht zu sehr auf Computer und zu wenig auf die Patienten zu konzentrieren.
Wie sollte die Geriatrie 2.0 aussehen und wo stehen wir jetzt?
In Österreich haben wir die Geriatrie 1.0 noch lange nicht erreicht. Man kann sich hier als Geriater nicht wirklich qualifizieren, eine Ausbildung an einer Universitätsklinik für Geriatrie inklusive Betten ist im öffentlichen Bereich nicht vorhanden. In der Ärzteausbildung bräuchte es die Wiedereinführung des Additivfachs Geriatrie oder gleich ein eigenes Fach.
Warum fehlt dieses Fach?
Weil andere Fachdisziplinen argumentieren: Wir behandeln auch ältere Menschen. Sie vergessen: Die Geriatrie konzentriert sich auf komplexe, hochaltrige Patienten, die von der normalen Struktur nicht adäquat versorgt werden können. Man müsste sie als Fachdisziplin stärken, damit sie das Image bekommt, das sie verdient. Denn vergessen wir nicht: Letztlich landet jeder von uns irgendwann in der Geriatrie.
Ist Österreich dafür gewappnet?
Wir müssen unsere Krankenhäuser für ältere Patienten zukunftsfähig machen. Der Mensch wird komplexer und muss wieder als Ganzes in den Mittelpunkt gestellt werden. Es wird also größere, interdisziplinäre Stationen brauchen mit einem Case Manager, der den Patienten federführend betreut und seine Facetten im Blick hat – eine Rolle, die Geriater oder Allgemeinmediziner übernehmen müssen.
Veranstaltung
Am Dienstag, 22. August, von 14 bis 15:30 Uhr, spricht Markus Gosch im Heiss-Saal über „Geriatrie 2.0“. Weitere Teilnehmer sind ÖGKV-Präsidentin Ursula Frohner, Werner Leodolter (KAGes)und Walter Schippinger (Albert Schweitzer Klinik)