Mythen und Fakten der EU-Flüchtlingsverteilung

Nach zwei Jahren endet das Notprogramm zur Verteilung von Asylwerbern, die in Griechenland und Italien gestrandet sind
Nach zwei Jahren endet das Notprogramm zur Verteilung von Asylwerbern, die in Griechenland und Italien gestrandet sindAFP (COSTAS METAXAKIS)
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Nach zwei Jahren endet das Notprogramm zur Verteilung von Asylwerbern, die in Griechenland und Italien gestrandet sind. Das Ziel von 160.000 Menschen war nie realistisch, sorgt aber bis zuletzt für Falschannahmen.

160.000. 120.000. 98.000. Oder letztlich nur 29.144, mit weiteren rund 10.000 möglichen: Wie hoch ist die Zahl der Flüchtlinge, die in Griechenland und Italien ausharren und angesichts ihrer berechtigten Aussichten auf Asyl in der Europäischen Union auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden sollen?

Heute, Dienstag, ist der letzte Tag, an dem Flüchtlinge noch in den beiden genannten Mittelmeerstaaten ankommen und in den Genuss dieser Umsiedlung in ein anderes Unionsmitglied kommen können. Nach zwei Jahren neigt sich die Notfall-Umverteilung von Asylwerbern, auf die sich Europas Regierungen im Krisensommer 2015 auf Vorschlag der Europäischen Kommission geeinigt hatten, dem Ende zu. Während der für Migrationsfragen zuständige Kommissar Dimitris Avramopoulos "enormen Fortschritt" bei der Anwendung dieses Mechanismus ortet, zeigt die Weigerung von Polen, Tschechien und Ungarn, Asylwerber aus Italien und Griechenland aufzunehmen, die Grenzen der freiwilligen Aufteilung der Flüchtlingslast innerhalb der Union auf.

Flop oder nicht? Schwer zu messen

Doch war die Notfall-Umverteilung der Flüchtlinge wirklich so ein Flop, wie sie von ihren Kritikern dargestellt wird? Ein genauerer Blick auf die Entwicklung dieses Mechanismus zeigt, dass sein Erfolg oder Misserfolg nur schwer objektiv messbar ist. Denn die Zielvorgaben waren von Anfang an bewusst hoch gewählt und standen in keinem realistischen Größenverhältnis zur tatsächlichen Zahl an betroffenen Asylwerbern. Im Verbund mit einer zwischen dem Rat der Minister und der Kommission oft schlecht bis gar nicht abgestimmten Kommunikation der Beschlüsse entstand ein Wust widersprüchlicher Zahlenangaben.

Der Reihe nach. Ende Juni 2015, als die Ströme der Flüchtlinge vor allem aus dem Irak und Syrien immer stärker wurden, fassten die Staats- und Regierungschefs einen Grundsatzbeschluss: 40.000 Flüchtlinge, die "klaren internationalen Schutz" bedurften (sprich: nach Prüfung ihrer Anträge voraussichtlich Anspruch auf Asyl bekommen würden), sollten binnen zweier Jahre von Griechenland und Italien über die gesamte Union (mit Ausnahme des Vereinten Königreichs, dafür aber mit den Nicht-EU-Mitgliedern Norwegen, Schweiz und Liechtenstein) verteilt werden.

Ungarn verzichtete auf EU-Hilfe

Fast drei Monate dauerte es, bis die Innenminister am 14. September diesen politischen Auftrag ihrer Chefs in einen EU-Rechtsakt gossen und damit verbindlich machten. Doch schon da war klar, dass die Zielzahl von 40.000 Umzusiedelnden nicht ausreichen dürfte. Sie basierte auf der Summe der Asylanträge, welche Eurostat regelmäßig erhebt. 39.183 Menschen hatten demzufolge von Jänner bis Juli 2015 allein in Italien um Asyl angesucht, um 27 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Gemeinsam mit den Zahlen der Grenzübertritte, welche die EU-Grenzschutzagentur Frontex erhebt, bildete diese Statistik die Grundlage für die Beschlüsse zur Umverteilung.

Und so legten die Innenminister schon am 22. September 2015 nach, bloß acht Tage später. 120.000 Asylwerber mit den geschildert guten Aussichten auf Anerkennung ihrer Anträge sollten aus Griechenland und Italien umgesiedelt werden - und, was oft vergessen wird, aus Ungarn. Auch dort waren, über die Balkanroute, Zehntausende Flüchtlinge gelandet. Die Kommission schlug vor (und die Innenminister stimmten dem zu), dass binnen zwei Jahren 54.000 dieser Asylwerber aus Ungarn verteilt werden. Doch die Regierung in Budapest wollte sich daran nicht beteiligen - auch in Kenntnis der Tatsache, dass so gut wie alle der Flüchtlinge Ungarn nur als Durchgangsstation in begehrte Zielländer wie Deutschland, Schweden oder Österreich betrachteten.

Rein rechnerische Höchstgrenze

Hier, in diesen beiden Beschlüssen vom September 2015, liegt der Ursprung der Wirrnisse, mit denen das Umsiedlungsprogramm behaftet ist. Denn die Zahl 160.000 (40.000 plus 120.000) war eine rein rechnerische Höchstgrenze. Wie viele Asylwerber unter dieses Programm fallen würden, sollte erstens davon abhängen, zu welchen Aufnahmemengen sich die Mitgliedstaaten freiwillig bekennen sollten, und zweitens von der tatsächlichen Zahl geeigneter Flüchtlinge.

Denn nicht jeder, der im Mittelmeer aus einem Schlauchboot gerettet wird, hat Anspruch auf Asyl in der EU. Die Minister einigten sich, auf Vorschlag der Kommission, dass nur jene Nationalitäten anerkannt würden, die in der EU eine Asylanerkennungsrate von 75 Prozent oder mehr hatten. Alle drei Monate wurde seither die Liste der Staaten, deren geflohene Bürger aus Griechenland und Italien umsiedelbar waren, auf Eurostat-Daten über die Asylanerkennungszahlen aktualisiert.

Und so hatten am Anfang nur Syrer und Eritreer, später auch Iraker, heute hingegen keine Iraker mehr, dafür aber Jemeniten sowie Bürger der Bahamas, von Bhutan, Katar und aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ein Recht darauf, nach ihrer Ankunft in Italien oder Griechenland in ein anderes EU-Land überstellt zu werden, um dort ihr Asylverfahren abzuschließen.

Wendepunkt Türkei-Abkommen

Was also blieb von den 160.000? Per Stand 22. September 98.255 Plätze für umsiedelbare Asylwerber, basierend auf den genannten Kriterien und den Aufnahmezusagen der Mitgliedstaaten, die am Programm teilnehmen. Doch auch diese Zahl ist nicht geeignet, um die Zielerreichung des Programms zu beurteilen.

Denn am 18. März 2016 schloss die EU mit der Türkei jenes Abkommen über die faktische Schließung der türkischen Grenze für Flüchtlinge, aufgrund dessen die Zahl der Neuankömmlinge in Griechenland binnen Jahresfrist um 97 Prozent sank. Über die Mittelmeerroute wiederum wagen es heuer ebenfalls wesentlich weniger Migranten und Flüchtlinge nach Italien. Das liegt, auch wenn es offiziell in Brüssel niemand zugeben will, in erster Linie an einem menschenrechtlich problematischen Abkommen der italienischen Regierung mit libyschen Milizen und früheren Menschenschmugglern.

Fazit: von den 160.000, die oft genannt werden, muss man 54.000 abziehen, die Ungarn nicht ausschöpfen wollte - und dann in Betracht ziehen, dass der Zustrom von Flüchtlingen wegen des Türkeiabkommens stark zurückging. "Das waren Projektionen für Menschen, die noch kommen würden – nicht Zahlen von Menschen vor Ort", hieß es seitens der Kommission gegenüber der "Presse".

29.144 bisher umverteilte Asylwerber

Somit erscheinen die bisher 20.066 aus Griechenland und 9078 aus Italien verteilten Asylwerber (in Summe 29.144) in einem klareren Licht. Zu ihnen sollten weitere rund 2000 Menschen kommen, die in Griechenland auf die Umsiedlung warten, sowie 2000 weitere, die in diesem Land möglicherweise als dafür auserwählt registriert werden könnten. Ob sie noch im Land sind, ist mangels ihrer behördlichen Erfassung fraglich.

In Italien wiederum sind heuer rund 7200 Menschen angekommen, die gute Aussichten auf Asyl haben und umverteilt werden könnten. Doch die italienischen Behörden haben nur 4000 von ihnen erfasst. Wer jetzt registriert ist, kann auch noch nach dem heutigen Stichtag in ein anderes EU-Land umverteilt werden.

In Summe dürften im Rahmen des zweijährigen Programms also 39.000 bis 40.000 Asylwerber aus den beiden Mittelmeerstaaten umverteilt worden sein. Die Empfängerländer erhielten dafür pro Asylwerber aus dem Unionshaushalt 6000 Euro, Griechenland und Italien jeweils 500 Euro an Transportkostenersatz. 780 Millionen Euro sind dafür budgetiert.

Den betroffenen Menschen wurde dadurch gewiss geholfen, und auch die überforderten Behörden Griechenlands und Italiens wurden entlastet. Bei der grundsätzlichen Bewältigung der Migrationskrise war dieses Notfallprogramm allerdings nur eine Etappe, in der sich die Überkommenheit des Dublin-Systems der Asylzuständigkeit im ersten EU-Ankunftsland offenbarte. Wie das europäische Migrations- und Asylwesen repariert wird, soll sich bis Jahresende klären.

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