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Ukraine: Die Angst vor der „Konterrevolution“ im heiklen Partnerland

Proeuropäische Kräfte auf dem Maidan drängten 2013 und 2014 mit Nachdruck auf eine Westorientierung des Landes. Doch die dafür notwendigen Reformen blieben großteils auf der Strecke.
Proeuropäische Kräfte auf dem Maidan drängten 2013 und 2014 mit Nachdruck auf eine Westorientierung des Landes. Doch die dafür notwendigen Reformen blieben großteils auf der Strecke. (c) REUTERS (SERGII POLEZHAKA)
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Das EU-Assoziierungsabkommen ist seit Kurzem in Kraft – doch Kritiker sehen den Westkurs des Landes in Gefahr.

Kiew/Wien. Das Graffito zeigte Taras Schewtschenko mit einer Gesichtsmaske und verwegenem Blick: Der große ukrainische Schriftsteller und Patriot war auf der Zeichnung, die unweit des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes an einem Geschäftslokal in den Tagen der Euromaidan-Proteste aufgetaucht war, als Revolutionsikone in die Gegenwart versetzt worden. Als Anfang September die insgesamt drei Graffiti über Nacht entfernt wurden, war die Empörung groß. „Revolution der Würde“ – die offizielle Bezeichnung der Maidan-Proteste wird gern von ukrainischen Politikern bemüht. Stadtbewohner sahen in der Säuberung der Straßenkunst hingegen einen Verdacht bestätigt: dass das Erbe des Maidan still und heimlich entsorgt wird, ausradiert wie die Zeichnungen, und gar eine „Konterrevolution“ im Gange ist.

Denn die Hoffnung auf schnelle Veränderung hat sich nicht erfüllt. Knapp vier Jahre nach dem Beginn der Proteste, die sich an der Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens durch den damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch entzündet haben, ist die Unsicherheit zu spüren, ob das Land weiter den Westkurs verfolgen wird. Zudem macht die angespannte Wirtschaftslage den einfachen Bürgern zu schaffen. Russland, das als Antwort auf den Sieg des Maidan die Krim annektierte und den Krieg im Donbass losbrach, mutierte vom großen Nachbarn zum „Aggressorstaat“. Der Krieg hat bisher mehr als 10.000 Tote gefordert. Gleichwohl hat Moskau sich grob verrechnet: Das Ziel, mittels Interventionen die Westorientierung der Ukraine zu verhindern, wurde verfehlt. Moskau, das das EU-Abkommen lange Zeit nicht ernst nahm, unterschätzte die Beharrlichkeit Kiews und Brüssels. Und Brüssel, das allzu sehr auf eine rationale Reaktion vertraute, musste feststellen, dass Moskau kein friedfertiger Verhandlungspartner ist. In der „flexiblen“ Neuausrichtung der Östlichen Partnerschaft hat man auf die russische Einflusssphärenpolitik reagiert. Ob gut oder schlecht, für die Ukraine kommt dies zu spät.

Für Kiew war es ein später Triumph, vor allem in Richtung Osten, als das Assoziierungsabkommen am 1. September offiziell in Kraft trat. Die Freihandelszone ist bereits seit 1. Jänner 2016 Realität. Die EU hat zahlreiche Handelserleichterungen für ukrainische Produkte eingeführt. Seit Jahresbeginn ist der Handel zwischen Ukraine und EU um 22 Prozent gestiegen, 40 Prozent des Außenhandels werden mit der EU abgewickelt. Doch das Handelsniveau von 2013, vor Ausbruch der Krise, wurde noch nicht erreicht.

Fahrten nach Polen und Rumänien

Eine Veränderung ist vor allem für die ukrainischen Bürger greifbar: Seit dem 11. Juni 2017 können sie mit neuen biometrischen Pässen visumsfrei in die EU einreisen. In den ersten 100 Tagen seit der Einführung machten davon 236.000 Bürger Gebrauch – eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (42,8 Mio.) vergleichsweise geringe Zahl. Die Nachbarländer Polen, Rumänien, Ungarn und Slowakei zählen zu den beliebtesten Reisezielen. Gleichzeitig liest sich der Auftrag von EU-Ratspräsident Donald Tusk an Präsident Petro Poroschenko beim EU/Ukraine-Summit im Juli noch immer wie eine Wunschliste: „Die wichtigste Aufgabe ist es, einen modernen, bürgerfreundlichen Staat zu errichten, der widerständig gegen Korruption ist und dem öffentlichen Leben auf dem höchsten Standard Respekt zollt.“

Die Mahnungen europäischer Diplomaten werden seit einiger Zeit lauter. Denn in der Ukraine sind die Beharrungskräfte im Aufwind, nachdem ausländische Reformkräfte – größtenteils im Konflikt mit dem Präsidenten – aus der Regierung geschieden sind. Susan Stewart, Analystin bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, konstatiert, dass die angekündigte Zurückdrängung des Einflusses von Oligarchen nur bruchstückhaft umgesetzt wurde, die „Symbiose zwischen Politik und Wirtschaft“ sei „keineswegs passé“. Gerade der Einfluss ausländischer Experten ohne Einbindung in lokale Machtnetzwerke könne entscheidende Reformanstöße geben – vor allem in so exponierten Bereichen wie Justiz, Korruptionsbekämpfung und Auslandsinvestitionen.

Stewart fordert eine aktivere Einmischung der internationalen Gemeinschaft, die die Ukraine derzeit mit hohen Finanzhilfen unterstützt. Die Expertin spricht sich gar für international besetzte Gremien aus, die „die Arbeit ukrainischer Schlüsselinstitutionen überwachen“. Auch Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft hoffen zunehmend auf Brüssels Augen und Ohren – die bisherigen Reformen könnten auch wieder rückgängig gemacht werden, lautet ihr warnender Tenor.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.10.2017)

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