Fast die Hälfte der wahlberechtigten Auslandstürken lebt in der Bundesrepublik. Der türkische Präsident konnte sich lang auf ihre Stimmen verlassen. Nun schöpft aber auch die Opposition Hoffnung.
Berlin. Nicht, dass Kenan Kolat eine Verschwörung vermutete. Aber schlechtes Timing ist es schon: Wochenlang wartete der Berlin-Vorsitzende der Oppositionspartei CHP auf ein wichtiges Paket. Seine Parteifreunde in Ankara hatten darin Tausende Flyer und Wahlversprechen verpackt. Am Montag kam die Lieferung an – einen Tag vor Wahlschluss in der Bundesrepublik.
Von so etwas will sich der langjährige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde aber nicht entmutigen lassen. Zum ersten Mal kann seine Partei in Deutschland etwas Hoffnung schöpfen. „Die AKP-Wähler wirken müde“, sagt er vor Journalisten. „Es gibt einen Veränderungswunsch in der türkischen Community. Und wir haben endlich einen Kandidaten, den man kennt.“ Tatsächlich ist Muharrem Ince der größte Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP).
Kolat muss aber auch zugeben, dass seine Partei einiges aufzuholen hat. Die AKP ist in Deutschland traditionell stark – stärker als in der Türkei. Das bewies unter anderem das Referendum im April 2017: Insgesamt erhielten Erdoğans Pläne nur knapp die Mehrheit, in Deutschland waren es 63 Prozent. Auch bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 machte der Unterschied ganze zehn Prozentpunkte aus. Auch die prokurdische HDP schnitt in der Bundesrepublik besser ab, als in der Heimat. Nur die Sozialdemokraten der CHP mussten sich hier mit Platz drei – statt Platz zwei – zufriedengeben. Bei all diesen Ergebnissen muss allerdings berücksichtigt werden: Viele Türken machen von ihrem Wahlrecht gar nicht erst Gebrauch. Dieses Mal lag die Beteiligung bei 50 Prozent.
Auftrittsverbot für Amtsträger
Also organisierten Kolat und seine Kollegen in Deutschland einen Autokorso, um für Stimmen zu werben. Sie mieteten Busse an, die dreimal täglich zu den Wahllokalen fuhren. Und sie schickten Taxifahrer los, um Senioren direkt von der eigenen Haustür zu den Konsulaten zu bringen. Alles ist bei der Kampagne aber nicht erlaubt: In Deutschland gilt (ebenso wie in Österreich) nach Aussagen Erdoğans ein Auftrittsverbot für Amtsträger vor dem Wahltag. Der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu kritisierte die Regelung vergangene Woche in Berlin. Spitzenpolitiker würden vor allem Social Media nutzen, um ihre Zielgruppe zu erreichen.
Aber auch das türkische Gesetz macht es seinen Auslandswählern nicht einfach: Eine Briefwahl ist nicht vorgesehen, die Stimme kann aber in eigenen Wahllokalen abgegeben werden. In Deutschland waren sie vom 7. bis 19. Juni geöffnet, in den meisten Fällen standen die Urnen in den Konsulaten. Für viele Türken war dies allerdings ein weiter Weg: Die Berliner Heeresstraße war für Menschen aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen die nächste Adresse.
Die Wähler zu mobilisieren zahlt sich aber aus: 1,4 Millionen Menschen sind in Deutschland wahlberechtigt – weltweit sind es drei Millionen. Bei einem knappen Ergebnis könnte ihr Votum entscheidend sein.
Sollte es zu einer Stichwahl kommen, wird in Deutschland vom 30. Juni bis 4. Juli gewählt. Möglich, dass Kolat seine Flyer also noch verteilen kann.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.06.2018)