Leitartikel

Gut, dass es Arzneien gibt – und gut, dass sie kontrolliert werden

 Allzu liberaler Umgang mit Schmerzmitteln ist gefährlich.
Allzu liberaler Umgang mit Schmerzmitteln ist gefährlich. (c) Bilderbox
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Es ist eine große Leistung der Zivilisation, dass wir wirksame Mittel gegen Krankheit und Schmerz haben. Naturheilkunde kann sie nicht ersetzen.

„Is it time for my pain-killer?“ Fünfmal fragt in Samuel Becketts „Endspiel“ der blinde Hamm seinen Diener Clov nach „seinem“ Schmerzmittel (in der französischen Version schwächer nach seinem „calmant“, Beruhigungsmittel). Viermal antwortet Clov mit Nein, das fünfte Mal wird er deutlicher: „Es gibt kein Schmerzmittel mehr. Du wirst nie wieder ein Schmerzmittel bekommen.“

Was für eine böse Pointe in diesem Weltuntergangsstück: Am Ende verschwinden auch die Waffen gegen Krankheit und Schmerz. Man kann kulturpessimistisch unken: Wie abhängig wir doch von der Chemie sind! Besser, wir sehen es stolz: Die Entwicklung von wirksamen Schmerzmitteln, Antibiotika und anderen Medikamenten ist unter den größten Leistungen der Wissenschaft. Das wird ganz klar, wenn wir die Alternativen bedenken. In der Schmerzbekämpfung etwa. Alkohol ist ein effektives Mittel gegen körperliche – und seelische – Schmerzen, allerdings eines mit sehr bedenklichen Nebenwirkungen, auch sozialen. Wer Zahnweh mit Schnaps bekämpft statt kurzfristig mit einem geeigneten Medikament und mittelfristig mit einem Zahnarztbesuch, handelt unklug. Vor der Entwicklung eines Sozial- und Gesundheitssystems waren Leidende auf solche unspezifische Betäubung angewiesen. In Ländern, in denen dieses fehlt, sind sie es heute noch.

Oder sie vertrauen auf Hausmittel, auf angeblich bewährte Naturheilkunde. Bei allem Respekt vor der Fantasie sogenannter Alternativmediziner: Es gibt keinen Grund dafür, warum die wilde Mischung an Substanzen, die eine Pflanze bereithält, gesünder sein sollte als ein gezielt synthetisierter, aufwendig geprüfter Reinstoff. Hinter diesem Irrglauben steckt die Naturromantik einer Zivilisation, die die Schrecken und Gifte der Natur glücklicherweise kaum mehr kennt. Gewiss, schon die alten Römer nahmen Weidenrinde gegen Fieber und Schmerz, doch das darin enthaltene Salicin ist effektiver und ärmer an Nebenwirkungen, und die daraus chemisch abgeleitete Acetylsalicylsäure, als Aspirin geläufig, ist ihm noch überlegen.

Die Firma Bayer, die deren Synthese 1897 entwickelte, konzentrierte sich damals übrigens mehr auf die Vermarktung eines Mittels gegen Hustenreiz: Diacetylmorphin, heute als Heroin berüchtigt. Aspirin habe zu viele arge Nebenwirkungen, dachte man bei Bayer . . .

Heute weiß man es besser, man kennt von Acetylsalicylsäure sogar einige günstige Nebenwirkungen (so senkt sie das Darmkrebsrisiko), und die Firma Bayer profitiert noch immer davon – obwohl es längst auch Generika gibt, die freilich nicht Aspirin heißen dürfen, nicht grün verpackt sind (und leider oft unsinnigerweise Süßstoffe enthalten).

Ja, auch bei Medikamenten gibt es Trends, die der Laie oft nicht nachvollziehen kann. So fragte man sich in den letzten Jahren bisweilen, warum so viele Apotheker just bei Aspirin immer davor warnen, dass es etwaige Magenleiden verstärken könne, und routinemäßig zu Ibuprofen raten. Die Beratung hat offenbar gefruchtet: Jetzt erfährt man, dass just ein Engpass an Ibuprofen droht.


So sehr man auch Pharmazeuten kritisieren darf und soll – etwa dafür, dass so viele Apotheken offensiv auf Homöopathie und sinnlose Vitaminpräparate, auf Schüßler-Salze und andere Quacksalbereien setzen –, es ist doch gut, dass der Medikamentenkonsum in Europa durch Apotheken organisiert und durch fallweise Rezeptpflicht kontrolliert wird. Die leichte Verfügbarkeit von Medikamenten in den USA ist ein Grund dafür, dass dort die Lebenserwartung mancher Bevölkerungsgruppen im letzten Jahrzehnt paradoxerweise gesunken ist. Allzu liberaler Umgang mit Schmerzmitteln – darunter Opiaten – ist eben auch gefährlich, vor allem wenn es aufgrund eines löchrigen Gesundheitssystems an ärztlicher Beratung fehlt.

Und wohl auch an Kontrolle über die Pharmaindustrie. So segensreich deren Produkte sind, sie sind (auch im Wortsinn) sensibel, gerade weil sie so lebenswichtig sind. Die strenge Prüfung durch eigene Behörden ist unverzichtbar, auch wenn sie die Anwendung verzögern mag. Sie wird schon nicht bewirken, dass es einmal wie im „Endspiel“ gar keine Medikamente mehr gibt.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2018)

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